Das Abstimmungsverhalten der Länder-Jurys beim Eurovision Song Contest steht dieses Jahr im Detail allen zur Einsicht zur Verfügung. Es lässt sich genau nachvollziehen, welcher der 5 Juroren einer nationalen Jury für wen abgestimmt hat. Das bietet erstmals interessante Einblicke in den Abstimmungsprozess und führte im Fall von Georgien gar zum Ausschluss aus der Wertung.
Für eine Show, eine Spaßveranstaltung, wird der Eurovision Song Contest meist ziemlich exakt auseinandergepflückt. Kein Wunder, trifft sich hier doch fast ganz Europa – und lassen sich wunderbar gesellschaftstheoretische Rückschlüsse formulieren oder Zahlenmystik betreiben. Es geht beim ESC nicht um Einfluss oder politische Macht, letztendlich nur darum, in welchem Land im darauffolgenden Jahr der Wettbewerb stattfindet – und dies würden die Länder am liebsten sogar vermeiden, denn der ESC ist imstande, das Budget so mancher Rundfunkanstalt und ganzer Länderhaushalte zu sprengen. Letztlich ist der ESC damit in Wirklichkeit ein Negativ-Preis für das austragende Land. Ruhm und Ehre für den Künstler, aber enormer finanzieller Aufwand im Folgejahr für die ausrichtenden Sendeanstalten. Dennoch wird die Veranstaltung genauestens analysiert und bewertet wie kaum eine andere.
Dieses Jahr ist noch mehr Platz für Theorien und Auswertungen, denn erstmals wurden die Wertungen der Länderjurys von der verantwortlichen europäischen Rundfunkunion (EBU) transparent veröffentlicht. Dadurch stehen dieses Jahr vor allem die nationalen Jurys im Blickpunkt des Interesses, deren Wertung je zur Hälfte ins nationale Gesamtabstimmungsergebnis einfließt. Die neue Transparenz offenbart interessante Einblicke, nicht nur auf die Vorlieben der einzelnen Jurymitglieder, sondern auch in den Abstimmungsprozess als solchen.
Gerechtigkeit durch Jurywertungen
Die Jurys waren von Beginn des ESCs bis weit in die 90er Jahre der Normalfall für den Weg der Punktefindung beim Contest. Jurys der teilnehmenden Länder vergaben die Punkte und bestimmten somit den Sieger. Erst seit 1997 wurden die Jurys sukzessive durch die Telefonabstimmung durch die Zuschauer abgelöst. Die Jurys bestanden weiterhin, doch sie wurden nur im Notfall beteiligt, etwa bei technischen Schwierigkeiten beim Televoting. Ansonsten zählte allein die Wertung der Zuschauer via Anruf.
Doch mit der nahezu flächendeckenden Telefonwahl handelte man sich ein delikates Problem ein: die Punktezuschusterei der Nachbarländer. Die Zuschauer wählten augenscheinlich oft nicht das am besten gefallende Lied, sondern einen eigenen Kulturkreis – oder den ihres eigenen Landes, wenn sie sich gerade außerhalb des eigenen Telefonnetzes befanden, in der Grenzregion oder im Urlaub. Punkte gingen regelmäßig und auffällig gehäuft an Nachbarländer, an Staaten, in denen viele Menschen der eigenen Ethnie lebten oder mit denen man sich verbunden fühlte. Beim Balkan, den GUS- oder den baltischen Ländern war das besonders zu beobachten.
Die Differenz zwischen den Ergebnissen der weiterhin vorhandenen Ersatzjurys mit dem tatsächlichen Ergebnis durch die Zuschauerwahl wurde immer größer, und auch die Kritik an den „Freundschaftspunkten“ wurde immer lauter, und so wurden die Jurys als Korrektiv wiederbelebt. Die Jurys sollten hier einen Gegenpol setzen, quasi das demokratische Element mit einem meritokratischen versöhnen. Den europäischen Zuschauern wird eine alleinige objektive Wahl nicht mehr zugetraut. Seit 2009 besteht ein Ländervotum daher zur Hälfte aus der Zuschauerabstimmung und zur Hälfte aus den Voten der jeweiligen Jurys.
Die als unfair empfundene Bevorzugung von Nachbarländern durch die Massen bei der Telefonwahl wird durch das Votum der Expertengruppen ausgeglichen – am Ende steht in der Theorie die Prämierung des besten Beitrages – in einem Abstimmungsverfahren, bei dem auch die „nichtverklüngelten“ Länder, vorweg das alte Europa, wieder eine Chance auf den Sieg erhalten.
Jury-Realitäten
Die Änderung der Abstimmungsregelung darf nur teilweise als gelungen betrachtet werden. Die Idee an sich ist gut: durch das Verfahren wird annähernd gewährleistet, dass die unvermeidlichen Freundschaftspunkte nicht allzu sehr in die Gesamtwertung einfließen, andererseits kann der Massengeschmack nicht von einem kleinen Kreis Eingeweihter komplett übergangen werden. Expertenwissen und Musiksachverstand fließen stärker in die Bewertung ein. Nur in der Praxis funktioniert es wieder einmal nicht richtig.
Da wären zunächst die Extremfälle: Die georgische Juryentscheidung wurde dieses Jahr komplett aus der Wertung genommen, da die Mitglieder der georgischen Jury nicht einzeln bewerteten, sondern die vorderen 8 Plätze von allen 5 Juroren exakt gleich vergeben wurden. Das konnte mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit kein Zufall sein. Die Abstimmung aus Georgien basierte somit allein auf den Telefonanrufen.
Einstimmigkeit
Merkwürdiges und Auffälligkeiten gab es aber auch in anderen Ländern, darunter Deutschland. Die deutsche und die isländische Jury setzten einstimmig Dänemark auf den ersten Platz, Moldawien setzte einstimmig Rumänien auf Platz 1. Die polnische Jury stimmte einstimmig für die Niederlande als Erstplatzierte und Slowenien und Finnland gaben Österreich je fünf Mal den ersten Platz.
Die polnischen Juroren votierten einstimmig für die Niederlande – und hatten ebenfalls ein recht übereinstimmendes Faible für Malta
Aber auch abseits der Einstimmigkeit bei den Erstplatzierten herrschte eher Einigkeit bei den nationalen Jurys – ohne dabei jedoch, gesamteuropäisch betrachtet, zu ähnlichen Ergebnissen zu gelangen: Montenegro stimmte fast einstimmig (4 von 5 Juroren) für Armenien, 3 von 5 spanischen und estnischen Juroren setzten Schweden auf Platz 1, drei italienische Jurymitglieder sahen Finnland auf dem ersten Platz, und die Niederlande wurden ebenfalls 3 Mal von Lettland auf Platz 1 gesetzt. Auch die dänische Jury votierte fast einstimmig für die Schweden. Drei von 5 Jurymitglieder aus Mazedonien stimmten für Ungarn.
Tendenziöse Abstimmung
Fatal jedoch ist, wenn die Jurys ihrerseits nicht nach musikalischen bzw. künstlerischen Gründen abzustimmen scheinen, sondern aus politischen oder regionalen – also genau das tun, wogegen sie eigentlich helfen sollten.
In Aserbaidschan und Weißrussland setzten die Jurys Russland auf den ersten Platz – das hätten die Anrufer auch nicht besser gekonnt (fast jedenfalls, immerhin setzten die aserbaidschanischen Anrufer Russland nur auf Platz 2, nach der Ukraine). Die russische Jury wiederum bedachte Weißrussland mit Platz 1.
Quasi zwangsläufig fand der Konflikt zwischen Aserbaidschan und Armenien Eingang in die Jury-Bewertungen: Armenien setzte Aserbaidschan auf den letzten Platz, und Aserbaidschan machte es umgekehrt genauso: die aserbaidschanische Jury setzte Armenien ans Ende der Tabelle. Die Anrufer, das sei angemerkt, hatten allerdings ebenfalls keine Stimmen für den verhassten Nachbarn übrig.
Auch die Jurys der westlichen Länder waren nicht über den Verdacht erhaben, sich angesichts des Ukraine-Konflikts in ihrem Abstimmungsverhalten politisch beeinflussen zu lassen. Die Tolmatschowa-Zwillinge lieferten einen ausdrucksstarken, perfekt choreografierten und musikalisch nicht unterdurchschnittlichen Beitrag ab. Dennoch setzten die Jurys aus Frankreich und Albanien Russland auf den letzten Platz. Estland, Norwegen, Rumänien und San Marino vergaben den vorletzten Platz für Russland – und Montenegro und Spanien hatten den Russinnen immerhin noch den vorvorletzten Platz zugedacht.
Keine Chance gegen das Publikum
Beruhigend ist daher, dass die Jurys das Ergebnis zwar beeinflussen, aber nicht entscheiden können – und damit letztlich doch die demokratische Entscheidung die Oberhand behält. Gegen die geballte Abstimmungsmacht der Zuschauer haben die Expertenteams keine Chance. Das wird offenbar, wenn man sich die Platz-1-Jury-Voten für die spätere Gewinnerin Conchita Wurst ansieht:
Israel: 2 x
Slowenien: 5 x
Finnland: 5 x
Griechenland: 1 x
Irland: 1 x
Litauen: 2 x
Schweden: 1 x
Schweiz: 2 x
Niederlande: 2 x
Die Qualität des österreichischen Beitrags blieb einigen Jurys also nicht verborgen – den Sieg verdankt Frau Wurst jedoch eindeutig den Anrufern – z.B. auch den armenischen, die Österreich auf Platz 1 wählten, während die Jury den vorletzten Platz reserviert hatte.
Ironie der Abstimmung
Die Jurywertung scheint in besonderem Maße anfällig für Manipulationen zu sein, wie das Beispiel von Georgien gezeigt hat. Auch in Aserbaidschan hatten die verschiedenen Juroren auffallend ähnliche Vorlieben. Das einhellige z.B. deutsche Jury-Ergebnis macht ebenfalls nachdenklich. Unabhängig von möglichen Absprachen liegt die Ironie darin, dass die Jurys eigentlich die Telefonergebnisse im egalitären Sinne korrigieren sollten, was auch ein Zuschanzen von Siegpunkten von Nachbarländern verhindern würde. Stattdessen legen die Jurys vergleichbares Verhalten an den Tag wie im Falle von Russland und Weißrussland (vergeben die Höchstwertung an die Nachbarn) oder machen sogar das Gegenteil wie im Falle von Aserbaidschan und Armenien – und sorgen somit dafür, dass überhaupt keine Stimmen mehr ins Nachbarland gehen. Da sage noch einmal jemand, der ESC sei keine politische Veranstaltung.
Quellen und Weiterführendes
ESC 2014 in Kopenhagen – Der Damenbart erobert die Herzen Europas
Die aserbaidschanischen Jurymitglieder haben alle genau denselben Geschmack
Und wie wurde nochmal belegt, dass das „mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit kein Zufall sein“ konnte?