Sprachentwicklungsverzögerung (SEV)

»Sprachstörung, Definition:
Das Kind erwirbt oder nutzt das Regelsystem und den Wortbestand seiner Muttersprache nicht altersgemäß; Auffälligkeiten der Sprache oder des Sprechens.
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(Der folgende Text ist ein Auszug aus meinem Bericht zum Praktikum in einer logopädischen Praxis während meines Studiums.)

Differenzierungen:

Sprachentwicklungsverzögerung (SEV): Die Sprachentwicklung verläuft in allen vier Bereichen zeitlich verzögert (Sprachverständnis, Wortschatz, Artikulation, Grammatik), aber strukturell regelhaft; organische Ursachen wurden ausgeschlossen; Verzögerungen sind in absehbarer Zeit aufholbar.

Sprachentwicklungsstörung (SES): Wie SEV, aber die Abweichung von der normalen Sprachentwicklung beträgt länger als ½ Jahr, oder es besteht eine strukturelle Abweichung; bei organischen Ursachen lautet die Diagnose stets SES.

 

Eine Sprachentwicklungsverzögerung liegt vor, wenn die sprachliche Entwicklung des Kindes auf allen Ebenen verlangsamt verläuft, d.h. es sind sowohl der Wortschatz und das Sprachverständnis, als auch die Artikulation (phonetisch-phonologische Ebene) und die Grammatik (syntaktisch-morphologische Ebene) betroffen (vgl. WENDLANDT 1992, S. 41). Der Störungsgrad der vier Auffälligkeiten kann individuell sehr unterschiedlich ausgeprägt sein; in den meisten Fällen sind die Sprachverständnisleistungen jedoch besser entwickelt als die Sprachproduktionsleistungen (vgl. GRIMM 1998, S. 946). Die Diagnose der  Sprachentwicklungsverzögerung kann nur gestellt werden, wenn organische Ursachen (z.B. frühkindliche Hirnschädigung, Missbildung der Sprechorgane, Taubheit u.a.) für die Abweichungen im Spracherwerb zuvor ausgeschlossen werden konnten. In allen anderen Fällen ist von einer Sprachentwicklungsstörung zu sprechen (SES), bei der die Sprachentwicklung nicht nur zeitlich, sondern auch strukturell und qualitativ anders verläuft.
Als mitverursachende bzw. aufrechterhaltende Faktoren einer SEV kommen konstitutionelle (psychomotorische Störungen, Beeinträchtigungen der sensomotorischen Reifeentwicklung hinsichtlich der Wahrnehmungsdifferenzierungsfähigkeit u.a.) und psychosoziale (schlechte sprachliche Vorbilder, Deprivation, ungünstige Familiensituationen, zweisprachige Umwelt, ungünstige räumliche und wirtschaftliche Verhältnisse u.a.) Aspekte in Betracht (vgl. GRUNWALD 1979, S. 16ff.).

Die einzelnen Symptomkomponenten der SEV im Detail:

Eingeschränkter Wortschatz/Sprachverständnisstörung
Der Wortschatz des sprachentwicklungsverzögerten Kindes kann im Vergleich zu anderen Kindern seiner Altersgruppe zu klein sein. Es kann viele Dinge nicht benennen, die es bereits kennt. Zur Kommunikation verwendet es deshalb häufig hinweisende Ausdrücke („das da“) oder es benutzt für unterschiedliche Dinge denselben Begriff (z.B. „Happa“ sowohl für „Löffel“, als auch für „Kuchen“ und „Brot“) (vgl. WENDLANDT 1992, S. 40f.).

Eine Sprachverständnisstörung zeigt sich darin, dass das Kind die Bedeutung von vielen Wörtern oder Sätzen nicht versteht, die sprachlich unauffällige Kinder problemlos erfassen. Oft können sie sich jedoch im Alltag an der Mimik und Gestik des Gesprächspartners orientieren und finden so heraus, was gemeint ist (Bsp.: Das Kind hat die Tür beim Hereinkommen offen gelassen. Die Mutter sagt: „Mach bitte die Tür zu!“ und deutet dabei auf die Tür oder schaut zu ihr hin.). Aufgrund dieser Tatsache bemerken Eltern die Sprachverständnisschwierigkeiten ihres Kindes häufig nicht und geben bei Befragung durch die Logopädin an, ihr Kind habe ein altersgemäßes Sprachverständnis.
In der logopädischen Therapie der SEV werden die Wortschatzerweiterung und die Förderung des Sprachverständnisses des Kindes in die übrigen Fördermaßnahmen eingebettet, d.h. es findet kein „Vokabeltrainig“ statt. Zu beachten ist, dass eine Integration der aktiven und passiven  Wortschatzerweiterung in den situativen Kontext vorgenommen werden muss, indem ein Gegenstand oder ein emotional ansprechendes Erlebnis mit dem Begriff verbunden und im handelnden Umgang verinnerlicht wird. Des weiteren sollten Begriffe in syntaktisch-morphologische Strukturen eingebettet werden, d.h. neue Wörter sollten in ihrer „natürlichen Umgebung“, dem Satz, eingeführt und benutzt werden. Insgesamt steht also bei der expressiven und rezeptiven Wortschatzerweiterung nicht die echoartige Imitation des Vor- und Nachsprechens im Vordergrund, sondern das gemeinsame Handeln von Kind und Therapeut im kommunikativen Kontext (vgl. GROHNFELDT 1990, S. 87ff.).

Dyslalie
Als Dyslalie wird eine Störung der Artikulation bezeichnet, bei der einzelne Laute oder Lautverbindungen entweder vom Kind ganz weggelassen werden (Ellision: Sonne > Onne), falsch gebildet werden (Distorsion: rot > chot) oder durch andere ersetzt werden (Substitution: Gabel > Dabel).
Die Dyslalie kann im Rahmen einer SEV auftreten, sie kann aber auch als isoliertes Symptom vorkommen (häufig z.B. in Form des „Lispelns“, dem Sigmatismus), wobei Lautbildungsfehler bis zum Ende des vierten Lebensjahres nicht als pathologisch angesehen werden. Der Therapiebeginn sollte daher zwischen dem vierten und 6. Lebensjahr des Kindes liegen, denn danach erlischt die spontane Rückbildungstendenz der Störung fast vollständig.
Quantitativ kann die Dyslalie eingeteilt werden in die
partielle Dyslalie: einzelne bis wenige Laute (ca. ein bis 3) sind betroffen; die Sprache insgesamt ist gut verständlich,
multiple Dyslalie: eine größere Anzahl von Lauten (ca. vier bis 6) ist betroffen; die Verständlichkeit der Sprache ist stärker eingeschränkt,
universelle Dyslalie: nur wenige Laute werden korrekt artikuliert, wodurch die Sprache schwer verständlich ist.
In qualitativer Hinsicht wird die Mogilalie (der Laut fehlt, z.B. Asigmatismus: ein Zischlaut wird nicht gebildet) von der Paralalie (der Laut wird durch einen anderen ersetzt) unterschieden. Bei der Paralalie werden gemäß der Jakobsonschen Regel entwicklungsphonetisch spätere Laute (z.B. /k/, /g/, /f/, /w/, /ch/, /s/, /sch/, /r/) durch frühere ersetzt (z.B. /p/, /b/, /t/, /m/, /n/, /l/, /d/). Parakappazismus bedeutet demnach, dass das Kind anstelle des /k/ einen anderen Laut artikuliert.
Am häufigsten sind die Zischlaute von der Sprachstörung betroffen (/s/, /sch/, /ch1/) sowie die Laute der dritten Artikulationszone (/g/, /k/, /j/, /ch2/, Gaumen-/r/); am seltensten sind die Laute der ersten Artikulationszone (/b/, /w/, /p/, /f/, /d/, /t/, /n/) gestört (Einteilungen und Häufigkeiten nach WIRTH 1983, S. 223ff.).
Der Lautbildungsstörung liegt häufig eine ungenügende Wahrnehmungs- und Differenzierungsleistung zugrunde. Handelt es sich um eine kinästhetische Differenzierungsschwäche, so ist die Feinmotorik von Lippen und Zunge eingeschränkt und das taktile Empfinden im Mundraum (z.B. hinsichtlich der Position der Zunge) ist herabgesetzt ( motorische Dyslalie). Das Kind kann also seinen Aussprachefehler aus motorischen Gründen nicht selbständig korrigieren. Eine sensorische Dyslalie liegt vor, wenn das Kind eine mangelhafte auditive Wahrnehmung, Verarbeitung und Merkfähigkeit von sprachlichen Lauten aufweist. Das Kind kann in diesem Fall seinen eigenen Artikulationsfehler nicht wahrnehmen, obwohl seine Hörfähigkeit normal ausgeprägt ist. Beide Formen der Dyslalie können kombiniert auftreten und es ist nicht immer eindeutig feststellbar, welchem Dyslalietyp das Kind zuzuordnen ist (vgl. BECKER & BECKER 1993, S. 261f.). Daher wird in der Therapie viel Wert gelegt auf eine allgemeine Sensibilisierung der auditiven und kinästhetischen

Spielerisch Minimalpaare und Reimwörter kennenlernen: Uhr – Ohr; Topf – Knopf (Spiel: Die freche Sprech-Hexe; Ravensburger)

Perzeption. Zum einen wird die Aufmerksamkeit des Kindes auf Gehörtes gerichtet, die Unterscheidungsfähigkeit von Geräuschen und Sprachlauten geschult und die Merkfähigkeit trainiert. Dazu stehen verschiedenste Übungen und Materialien zur Verfügung. Zum anderen ist die Förderung der Bewegung und Wahrnehmung, insbesondere der Körperteile, die für das Sprechen benötigt werden, Bestandteil einer Sprachtherapie. Dies können unterschiedliche spielerische Bewegungsübungen im Gesichts-Mundbereich sowie allgemeine Schmeck-, Riech- und Tastspiele sein. Sie verbessern die Voraussetzungen für die korrekte Lautbildung, indem das Kind ein sichereres Gespür beispielsweise für die Zungenlage entwickelt und damit zielgerichtete Bewegungen ausführen lernt.
Zudem werden nach verschiedenen Kriterien die von der Dyslalie betroffenen Sprachlaute einzeln ausgewählt, die für eine Weile im Mittelpunkt der Sprachtherapie stehen werden. Je nach Schwerpunkt der Störung geht es dann um die gezielte Anbahnung dieser Laute, ein Training auf Laut-, Wort- und Satzebene, bis schließlich die Anwendung in der Spontansprache des Kindes geübt wird. Spielerisch wird dem Kind die bedeutungsunterscheidende Funktion der Laute vermittelt. Dies erfolgt über sogenannte Minimalpaare, d.h. Wortpaare wie z.B. Tasse – Kasse, die sich nur in einem Laut unterscheiden, dadurch aber bereits eine völlig andere Bedeutung erhalten. Auch die Erweiterung des Wortschatzes fließt in jeden sprachlichen Austausch mit dem Kind ein. Zu beachten ist, dass die konkrete Beschäftigung mit dem Sprachlaut für ein Kind eine abstrakte und langweilige Angelegenheit ist. Daher muss die Arbeit am einzelnen Laut stets in praktische Handlungen und Spiele eingebunden werden, die das Kind motivieren und ihm Freude bereiten (vgl. z.B. BECKER & BECKER 1993, S. 259ff.).

Dysgrammatismus
Als Dysgrammatismus wird eine zeitliche (Stehenbleiben auf einem früheren Entwicklungsstand) oder qualitative Abweichung (es treten grammatische Strukturen auf, die in der normalen Entwicklung des grammatischen Regelsystems nicht vorkommen) der grammatischen Satz- und Wortbildung bezeichnet. Die Sprache des dysgrammatischen Kindes ist gekennzeichnet durch Auslassungen von Wörtern oder ganzen Satzteilen, die nicht mehr seinem Alter entsprechen, z.B. „Timo Hause“, „Mama Ball“, falsche Stellung der Wörter im Satz, z.B. „Heute nach Hause gehen ich.“, fehlende oder fehlerhafte Form von Worten, z.B. „der Mädchen“, „ich gehen, du machen“, „ich bin gegangt“ (vgl. WENDLANDT 1992, S. 41).
Dysgrammatische Beeinträchtigungen lassen sich in drei Schweregrade einteilen:
Leichter Dysgrammatismus: Das Kind kann kurze Sätze richtig nachsprechen. Seine Sprache ist noch gut verständlich, wirkt aber kleinkindhaft. Häufig werden Artikel vertauscht, die Deklination und die Konjugation können fehlerhaft sein. Längere Sätze mit Nebensätzen werden gar nicht oder regelwidrig gebildet (Bsp.: „Die Ball ist rot.“; „Ich essen eine Birne.“; „Wenn ich hause kommen, ich Puppe spielen.“). Im Rahmen einer SEV kommt hauptsächlich diese Form des Dysgrammatismus vor.
Mittelschwerer Dysgrammatismus: Auch das Nachsprechen von Sätzen ist dem betroffenen Kind nur begrenzt möglich. Gebildete Sätze überschreiten nur selten eine Länge von fünf Wörtern. Die Sprache des Kindes ist für Fremde schwer verständlich, da kaum grammatische Regeln beachtet werden können. Zu der falschen Satzbildung kommt die fehlerhafte Bildung von Wörtern hinzu (Bsp.: „Geter Bursag haben. Viele Schenke haben.“ >> „Gestern habe ich Geburtstag gehabt. Ich habe viele Geschenke bekommen.”)
Schwerer Dysgrammatismus: Das Nachsprechen von Sätzen ist dem betroffenen Kind gar nicht möglich. Es spricht ausschließlich in Ein- oder Zwei-Wort-Äußerungen. Auch einzelne Worte sind sehr verstümmelt, so dass die Sprache für Fremde sehr schwer verständlich ist (Bsp.: „Borta e. Feu auch.“ >> „Ich habe Geburtstag gehabt. Mein Freund war auch da.”) (vgl. GRUNWALD 1979, S. 32).
Wie in der Dyslalietherapie hat auch in der Therapie des Dysgrammatismus die Förderung der Wahrnehmung einen hohen Stellenwert, denn der Anstoß zur Weiterentwicklung der grammatischen Strukturen entsteht über das Feststellen einer Nichtübereinstimmung der eigenen Sprachproduktion mit jener der Umwelt. GROHNFELDT meint dazu, dass „[…] sich das therapeutische Vorgehen zum einen auf die impressiven Basisfunktionen der Sprache richten sollte und erst dann auf die Sprache selbst. Eine ausschließliche Arbeit am sprachpathologischen Symptom ist besonders in diesem Fall [dem Dysgrammatismus] wenig erfolgversprechend.“ (GROHNFELDT 1990, S. 94; Einfügung: M.L.)
In der Therapie sollen außerdem sprachanregende Situationen geschaffen werden, die bestimmte Äußerungen geradezu provozieren, z.B. Rollen- oder Handpuppenspiele, Dialoge am Telefon oder ein Reporterspiel. Spielerische Sprachverständnis- (z.B. in Form von Aufforderungen: „Leg den Löffel auf den Teller.“) und Sprachgedächtnisübungen sowie rhythmisch-melodische Übungen sollen das Kind für sprachliche Strukturen sensibilisieren. GROHNFELDT veranschaulicht in seinem Buch viele Möglichkeiten der therapeutischen Arbeit mit Bildkarten u.ä. (vgl. GROHNFELDT 1990, S. 96ff.).

Literaturnachweis:
BECKER, K. & BECKER, R. (Hrsg.) (1993): Rehabilitative Spracherziehung. – Berlin.
GRIMM, H. (1998): Spezifische Störung der Sprachentwicklung, in: Oerter, Rolf & Montada, Leo: Entwicklungspsychologie. – Weinheim.
GROHNFELDT, M. (1990): Grundlagen der Therapie bei sprachentwicklungsgestörten Kindern. – Berlin.
GRUNWALD, A. (1979): Sprachtherapie. Praktische Anleitungen zur Diagnose und Therapie sprachgestörter und entwicklungsbehinderter Kinder. – Hamburg.
WENDLANDT, W. (1992): Sprachstörungen im Kindesalter. Materialien zur Früherkennung und Beratung. Stuttgart.
WIRTH, G. (1983): Sprachstörungen, Sprechstörungen, kindliche Hörstörungen. Lehrbuch für Ärzte, Logopäden und Sprachheilpädagogen. – Köln.