Wie zwei böse Omen hingen die letzten Entwicklungen über dem Projekt: Erst nahm Debian vorübergehend Gnome den Status als Standarddesktop für Installations-CD Nr. 1, und nun sind auch noch Cinnamon und Mate in Fedora, der Gnome-Distribution schlechthin, enthalten. Sollte jemandem bei Gnome nun doch mal etwas gedämmert haben? Fast nicht mehr überraschend kommt, dass Gnome sich nun der Macht des Faktischen beugt.
Nachdem man innerhalb von 18 Monaten die gefühlte Marktführerschaft unter den Linuxdesktops verloren hat und als erste Wahl aus fast allen populären Distributionen geflogen ist, scheint man beim Gnome-Projekt nun endlich aufgewacht zu sein. In dem Sinne, dass man allmählich zu verstehen beginnt, dass man eine gewachsene Nutzerschaft nicht mal eben so mit der Neuerfindung des Rades begeistern kann. Das Wichtigste an einem Desktop ist seine Verlässlichkeit. Man muss, wenn man seine Daten und seine Arbeitsabläufe einer Oberfläche anvertraut, darauf vertrauen können, dass es diese Oberfläche in derselben Form auch 12 Monate später noch gibt. Niemand reitet gerne tote Pferde, sprich, setzt auf Technologien, von denen absehbar ist, dass sie alsbald fallengelassen werden. Ein Umstand, der die Attraktivität von Forks wie Trinity oder Mate natürlicherweise beschränkt.
Gnome hat alle Fehler praktisch vorweggenommen, mit denen nun derzeit auch Microsoft voraussichtlich den nächsten großen Flop nach Vista produziert: Wesentliche Änderungen der Benutzerführung, Umwerfung des kompletten Designs, Verkomplizierung von eingespielten Arbeitsabläufen, schlechtere Erreichbarkeit von Optionen und Wahlmöglichkeiten – Konfusion. Nur, dass Gnome dabei noch konsequenter war und auf Bestandsnutzer überhaupt keine Rücksicht nahm. Denn den Desktop komplett abzuschaffen, das hat sich selbst Microsoft nicht getraut.
Wer bei Windows 8 ein Startmenü will, braucht eine Dritthersteller-Erweiterung, bei Gnome auch. Für simple spezifische Einstellungen ist das Nachinstallieren des Tweak-Tools nötig, eigene erweiterte Einstellungen kennt Gnome nicht. Gnome 3 mag technisch gut und auf der Höhe der Zeit sein, aber seine Darreichungsform, die Gnome-Shell, ist weiterhin umstritten. Hierin liegt das große Drama: die Shell ist ambitioniert, aber sie passt nicht zum Workflow der breiten Masse. Zu Windows und Mac OS bestehen kaum noch Schnittmengen, auch die Gemeinsamkeiten zu anderen Linuxoberflächen werden stetig kleiner. Wer mit der Gnome-Shell arbeitet, der lässt sich auf ein UI-Abenteuer ein und sich Arbeitsweisen antrainieren, mit denen er außerhalb der Gnome-Shell nicht mehr viel anfangen kann.
Nun aber scheint ein Stück Althergebrachtes bei Gnome wieder zurückzukommen. Während der 2D-Fallback-Modus von Gnome von vornherein wie eine Übergangslösung erschien, die nun folgerichtig aufgegeben wird, da man keine Ressourcen darauf verschwenden will, zwei sich technisch unterscheidende Modi parallel anzubieten, kommt nun der „Classic-Modus“ auf Grundlage der aktuellen Technologien, auf denen auch die Gnome-Shell fußt, jedoch in Gestalt eines herkömmlichen Desktops mit herkömmlicher Bedienweise. Ein Zugeständnis an alle, die mit der Gnome-Shell nicht zurechtkommen können oder wollen. Gnome kopiert damit gewissermaßen den Erfolg von Linux Mint respektive Cinnamon: Gnome forkt sich praktisch selbst: mit moderner Technik, aber erprobtem Bedienkonzept.
Wer Gnome kennt, und dessen Philosophie vom einfachen, einem Universalprinzip folgenden Desktop, wird sich vorstellen können, wie viel Überwindung es gekostet haben muss, von der Gnome-Shell als universellem Angebot abzurücken, gerade wo doch die eigenen Visionen stets über den Anwenderwünschen zu stehen scheinen. Doch es drängt sich ebenso der Gedanke auf, dass auch der nun kommende Classic-Modus wieder nur eine Übergangslösung sein könnte – ein Übergang, um die Alt-User und Gewohnheitstiere doch noch irgendwie an Gnome 3 zu gewöhnen und ihnen vielleicht irgendwann die Shell schmackhaft zu machen. Aber es ist ein erster Schritt in die richtige Richtung – den Nutzern die Werkzeuge an die Hand zu geben, die sie benötigen, und sie nicht umzuerziehen.
Mit der traditionellen Ansicht kommt ein Stück Verlässlichkeit wieder zurück in den Gnome-Desktop, und gerade das ist es, was zählt. Die Nutzer wollen sich darauf verlassen können, auch morgen noch denselben Desktop vorzufinden, den sie heute benutzen. Die große Frage wird nun vor allem sein, wie Gnome den Classic-Mode künftig verkaufen wird – weiterhin als Notlösung für Minderheiten oder gleichberechtigt neben der Shell. Denn Not- oder Übergangslösungen haftet immer auch die Aura des Aussterbenden an. Gnome muss nun beweisen, dass es das Vertrauen der Anwender verdient, es muss verlorengegangenes Vertrauen wieder zurückgewinnen. Fataler könnte es nicht sein, würde Gnome irgendwann auch den Classic-Modus wieder aufs Abstellgleis schieben. Ein positiver Eindruck, wie Gnome mit dem Classic-Modus verfährt, könnte damit die letzte Chance für Gnome sein, den Abstieg in die zweite Liga der Linuxdesktops aufzuhalten.