Augen zu und hingehört: Linux für Blinde und Sehgeschädigte

6. Juli 2010

Der ein oder andere hat vielleicht schon mal davon gehört, dass auch Blinde den PC nutzen. Aber wie sieht es aus mit der Sehbehindertenfreundlichkeit des Pinguins? In Linuxkreisen hat sich bislang vor allem Knoppix den Ruf erworben, ein auch für Sehbehinderte geeignetes System zu sein. Noch etwas unbekannter ist, dass es auch ein spezielles “Linux für Blinde” gibt – das auf Ubuntu basiert. Ein Artikel von Steffen Schultz.

Linux für blinde und sehgeschädigte Menschen nutzbar machen? Schon längst ist dies kein Ding der Unmöglichkeit mehr. Obgleich diese Nutzer-Community noch eher überschaubar sein dürfte, hat sie doch schon Einiges geleistet, um Linux-Distributionen Stück für Stück für sich nutzbar zu machen. Ob Sprachausgabe, Braillezeilenanbindung oder ein Vergrößerungssystem: alles ist in vielen Distros schon enthalten und kostet kein Geld, im Gegensatz zu den bis zu einigen Tausend Euro teuren Softwarelösungen für Windows. Selbst Microsoft-Konkurrent Apple ist da schon weiter und bietet mit seinem Screenreader Voice-Over in vielen Produkten (Macintosh, I-Pod, I-Pad, I-Phone) eine vollwertige Zugänglichkeitsoption an. Erst mit Projekten wie NVDA sind frei zugängliche Screenreader auch in Windows angekommen. Natürlich leisten diese Hilfstechnologien bei weitem noch nicht das, was man von kommerzieller Hilfsmittelsoftware gewöhnt ist, bieten aber durchaus genug Funktionen, um die alltägliche Arbeit am Computer problemlos zu bewältigen.


Einstellungsfenster des Screenreaders Orca

Eines jedoch haben Hilfstechnologien vieler Plattformen gemeinsam: sie funktionieren nicht out of the box. Gerade unerfahrene Benutzer bedürfen bei Windows wie Linux der Hilfe eines sehenden Menschen, um den gewünschten Screenreader einzurichten. Zwar gibt es von Open Suse die recht passable Umsetzung eines sprechenden Bootmenüs, welches aber wenig sinnvoll ist, da lediglich die Bootoptionen der Installationsmedien oder Livesysteme gesprochen werden. Bei der Installation oder nach dem Booten der Live-CD ist der Nutzer zunächst auf sich selbst angewiesen und muss den Screenreader im Blindflug einrichten. Eine bessere Zugänglichkeit bietet Ubuntu mit seinem Accessibility-Profil, welches man jedoch nur im Blindflug aus dem Bootmenü erreicht.

Ein komplett zugängliches und weithin bekanntes Livesystem heißt Knoppix, welches auch in einer blindenfreundlichen Version erhältlich ist. Genutzt werden das sprechende Desktopsystem ADRIANE mit dem Konsolen-Screenreader SBL und eSpeak plus Speech-Dispatcher als Sprachausgabenschnittstelle sowie Orca für den LXDE-Desktop. Viele Programme aus den verschiedensten Anwendungskategorien sind bereits vorinstalliert und bieten allesamt eine gute Zugänglichkeit für blinde und sehbehinderte Anwender.

Tony Sales, Lehrer am Royal National College for the Blind in Hereford/England, rief vor einigen Jahren ein weiteres, vollständig zugängliches Linuxsystem ins Leben, genannt Vinux. Die erste Generation basierte auf Ubuntu 8.10, bot aber keine besonders stabile Nutzung der Sprachausgabe. Dies änderte sich in der zweiten, auf Debian 5.0 basierenden Generation, welche jedoch die schlechtere Hardwareunterstützung aufwies. In der dritten Version kehrte man daher zu Ubuntu zurück. in Version 10.04 waren mittlerweile auch die Stabilitätsprobleme behoben und Vinux hat sich zu einem sehr gut nutzbaren Livesystem gemausert. Zum Einsatz kommen die Screenreader Orca für den Gnome-Desktop, Speakup für die Konsole sowie Speech-Dispatcher als Sprachausgabenschnittstelle. Desktop-Hintergrund, Farben und Schriftgröße sind für die optimale Nutzung durch sehgeschädigte Nutzer vorkonfiguriert. Auch ein Vergrößerungssystem fehlt nicht. Nicht zuletzt sind sehr viele Tastenkombinationen eingerichtet, um die wichtigsten Funktionen gezielt anzusteuern. Viele Anwendungen sind vorinstalliert und weitere Pakete können aus einer eigens für Vinux eingerichteten Softwarequelle bezogen werden. Allerdings ist Vinux bisher nur in Englisch erhältlich, kann aber nach einer Festplatten- oder Flashdisk-Installation lokalisiert werden.


Der Vinux-Desktop

Für mich als verwöhnten Windowsnutzer ist die Arbeit unter Linux jedoch noch immer sehr abenteuerlich. Die Stabilität, wie man sie von Windowssystemen gewohnt ist… nun ja, jedenfalls in Sachen Screenreader, ist unter Linux noch nicht gegeben. Die Sprachausgabe reagiert in komplexen Desktopanwendungen erst nach einigen Sekunden, nachdem man eine Taste gedrückt hat. Möchte man sich mit Orca gar große Dateilisten im Dateimanager anzeigen lassen, ist schon ein wenig Geduld angesagt. Wer diese Geduld nicht hat und es wagt, seine Tastatur im Blindflug zu Höchstleistungen anzutreiben, kann dann schon mal mit Abstürzen des Screenreaders oder gar der Sprachausgabenschnittstelle bestraft werden. Daher tut man gut daran, sich für die häufigsten Aufgaben auf die Konsole zu verlassen, da sie mit dem Screenreadern Speakup oder SBL weitaus stabiler und schneller zu handhaben ist als der Desktop.

Auch gibt es noch immer viele Desktop-Anwendungen, welche kaum oder gar nicht zugänglich sind. So ist die große Palette der mit dem QT-Framework) programmierten Anwendungen (u. a. Skype) für Orca oftmals völlig unzugänglich. Dies liegt aber weniger an Orca selbst, als mehr an der nur unzureichenden Zugänglichkeit in QT.

Dennoch ist Linux auch für Blinde und Sehbehinderte längst kein Buch mit sieben Siegeln mehr. Es kann mit Recht als gute Alternative für Windows bezeichnet werden und bietet genügend Möglichkeiten zur Nutzung im Alltag. Mögen auch noch sehr viele Schwachstellen vorhanden sein, sie werden mit jeder neuen Softwareversion weniger, auch dank einer stetig wachsenden Community.


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Kommentare

ich bin selber blind, dass von den ganzen Linuxdisposionen Vinux3 im augenblick das Beste ist. Alleine von der Geschwindigleit kommt kein Windows mit. ob es um Datenbanken oder Downloads und Uploads geht, ist Vinux schneller. Aber leider läuft für uns Blinde ja noch nicht alles. Der blinder Bernd aus Hannover
und Webmaster vom Schachklub Anderten

Bernd · 10. Juli 2010, 08:38

Ich bin selbst jetzt auf Vinux umgestiegen. Ich benutze schon die Version 5.0 die auch schon auf Deutsch funktioniert.

Ich hoffe, dass Vinux weiterentwickelt und verbessert wird.

— Kevin · 3. Oktober 2016, 19:53

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