Der Eurovision Song Contest 2008: ein grandioser Abend in Belgrad mit mehr teilnehmenden Ländern, mehr Englisch, gleichbleibendem Halligalli, weniger Balkan, Osteuropa und Skandinavien, einem letzten Platz für Deutschland – und die russische Föderation hat nicht nur einen neuen Präsidenten, sondern 2009 auch den Grand Prix im Lande.

Es wäre ein so schöner Aufmacher für diesen Text geworden, doch ARD-Grand-Prix-Hauskommentator Peter Urban nahm einem den Gag aus dem Mund – und verglich beim Eurovision Song Contest 2008 den Sänger des türkischen Beitrages, der ein wenig aussah wie ein rockender Thomas Hermanns, mit ebendiesem.

Musiknoten als EuropasterneWer noch immer hoffte, Urban würde zur alten, ironischen Bissigkeit zurückfinden, wurde enttäuscht. Die Anspielung auf Hermanns blieb der einzige Kommentar, der an die früheren Zeiten anzuknüpfen versuchte. Kaum Amüsantes, dafür eher treffend-nüchterne, stimmige Einschätzungen, vereinzelt nur Kalauer auf Altherrenwitzniveau (in Island seien sowieso alle miteinander verwandt). Konnte man im vergangenen Jahr noch die Unkonzentriertheit des Kommentierenden beanstanden, gab sich Urban dieses Mal jedoch deutlich textsicherer – kein Wunder, denn wer genau hinhörte, dem kamen die Worte seltsam vertraut vor: Urban sprach die bereits zu den beiden vorangegangenen Halbfinalen abgegebenen Statements ohne große Änderungen zum Finale einfach noch einmal neu.

Die Kommentierung des großeuropäischen Sängerwettstreits könnte allerdings als das kleinste Problem gelten. Man ist mittlerweile übersättigt von Musiksendungen im Fernsehen: Chartshows, „Die besten Lieder“ aus vergangenen Dekaden, „die bekanntesten Hits“ „die erfolgreichsten Popsongs“, Popstars, Superstimmen, Knalltüten – und zuletzt natürlich „Deutschland sucht den Superstar“ drangen und dringen senderauf und senderab aus den Flimmerkisten. Das Fernsehen mutiert zurück zum Radio.

Der Grand Prix ist tot! Es lebe der Grand Prix!

Den Eurovosion Song Contest 2008 aus Belgrad tatsächlich nur im Radio zu übertragen wäre vielleicht wirklich eine Überlegung wert, denn das Spektaktel leidet sichtbar unter den Nebeneffekten des Mediums Fernsehen. Im bilderdominierten Äther zählt der optische Eindruck, die Show, die Performance. Choreografie, Tanz und Ausstrahlung entscheiden über den Erfolg einer Nummer, Musik, Text und Gesang verkommen zu Nebensächlichkeiten. In den vergangenen Jahren gewann stets das Land mit der besten Choreografie, der schönsten Sängerin oder dem eindrucksvollsten bis absurdesten Bühnenbild – musikalisch teils zweifelhaft, dafür umso mehr fürs Auge: 2006 Finnland (Lordi: „Hard Rock Hallelujah“) mit einer Gruppe maskierter Zombie-Rocker, 2005 Griechenland (Elena Paparizou: „My number one“) mit riverdanceartiger Choreographie, 2004 Ukraine (Ruslana: „Wild Dances“) mit archaisch wirkenden, in Fell gekleideten Tänzern, 2003 Türkei (Sertab Erener: „Everywhere That I Can“) mit 4 bauchtanzenden Gummitwistspielerinnen, 2002 Lettland (Marie N: „I wanna“) mit einer Art Striptease.

Ausnahmen bestätigen die Regel: das diesjährige Gastgeberland Serbien gewann 2007 mit einer unscheinbaren Interpretin, ohne Gezappel und mit gefühlvoller, in der Landessprache gesungenen Musik (Marija Šerifović: „Molitva“).

Auch das diesjährige Siegerlied aus Russland (Dima Bilan: „Believe“) hatte die einfallsreichste und gleichzeitig kontrastreichste Choroegraphie (nackte Füße auf symbolischem Eis, einen echten Eiskunstläufer und einen Violinist mit echter Stradivari als Begleitung), aber auch ein eingängiges Lied. Im Ergebnis ein Freifahrtschein zum Grand-Prix-Sieg.

russische auf serbischer Flagge
Serbien gibt den Grand Prix ab an Russland

Grand-Prix-Analysten zerbrechen sich die Köpfe, um eine Vorhersage treffen oder zumindest eine Erklärung liefern zu können. Doch es hilft alles nichts. Obwohl man mit Krawallliedern gute Chance auf die vorderen Ränge hat und mit Balladen, Liebesliedern und reinen Gesangsnummern überwiegend Trostplätze erreicht, lässt sich kein immergültiges Muster erkennen. Die Trends dagegen scheinen klar: Balladen und Chansons sind nicht mehr gefragt (Polen landete mit einer fast disneymusicalverdächtigen Darbietung zusammen mit Deutschland und England auf dem letzten Platz). Mit Euro-Trash (Lieder, bei denen man allein aufgrund der Musik nie feststellen könnte, für welches Land die Sänger ins Rennen gegangen sind; alles klingt gleich und austauschbar) landet man sehr oft im oberen Bereich. Die für Deutschland startenden „No Angels“ passten gut in dieses Schema, und dennoch hat es nicht gereicht. Keine Abhebung vom musikalischen Einheitsbrei, keine Alleinstellungsmerkmale bei Lied und Text, zu normal, keine raabeske Comedynummer, kein germanischer Country a la Dittrich, kein Deutsch-Swing wie bei Roger Cicero. Wiedereinmal ein letzter Platz für Germany. Für Polen (Isis Gee: „For Life“) ist das Ergebnis hart und ein wenig unfair, erst recht, wenn man sieht, dass Polen bereits im Halbfinale gescheitert wäre, hätte die Fachjury im komplexen Regelwerk den Titel nicht noch autorisiert, doch zumindest bei England und Deutschland kann man die europäische Enthaltung verstehen – wer ruft schon freiwillig für Länder an, die sich dank dicken Geldbeutels keiner echten Qualifizierug stellen müssen? Und selbst wenn der Anruf oder eine SMS im Vergleich zu Superstar-Castings nur einen öffentlich-rechtlichen Bruchteil kostet: wer hat nach all den Castingshows denn für einen albern und unübersichtlich gewordenen Sangeswettstreit noch Geld übrig?

Rekorde, Sensationen

Der Eurovision Song Contest 2008 war wieder für Überraschungen gut, es war eine Veranstaltung voller Merkwürdigkeiten, Kuriositäten und Rekorde: Frankreich sang zum ersten Mal in der Grand-Prix-Geschichte nicht auf Französisch. Die Türkei trat zum ersten Mal mit einem Lied an, das nicht nach Orient (oder nach tiefergelegtem BWM mit offenen Fenstern in Berlin-Kreuzberg) klang. Kroatien präsentierte mit „75 Cents“ den ältesten je beim Grand Prix angetretenen Sänger. Mit Aserbaidschan nahm wieder einmal ein neues Land teil, das man noch gestern selbst mithilfe eines Teams von Sherpa-Guides nicht auf der Landkarte gefunden hätte. Der Song Contest zählte zum ersten Mal 43 Teilnehmerländer. Das Grand-Prix-Land schlechthin, Irland, war im Finale nicht dabei. Kein einziges Land sang in deutscher Sprache (Österreich nahm von vornherein nicht teil, die Schweiz scheiterte im Semifinale und von den No Angels konnten Deutschkenntnisse nicht erwartet werden).

Überdies scheint die gesamte europäische Musikszene nur noch aus Castingshowteilnehmern zu bestehen: Norwegen (Maria Haukaas Storeng: „Hold on be strong“) war Teilnehmerin bei „Idol“ (der norwegische Version von „Deutschland sucht den Superstar„), der israelische Interpret Boaz Mauda wurde bei Kokhav Nolad, der dortigen Superstar-Variante entdeckt und auch die No Angels sind das Produkt der RTL2-Castingshow „Popstars“. Es fehlte nur noch, dass die DSDS-Jury auch gleich noch beim Grand Prix die Urteile fällt. Hätte die DSDS-Jury bereits vor dem Grandprix die Teilnehmer bewerten müssen, wäre der Song Contest mangels Talent bzw. „Wiedererkennungswert“ wahrscheinlich ausgefallen.

Fast erstaunlich, dass es der Eurovision Song Contest immer wieder schafft, ein ausgewogenes Teilnehmerfeld an den Start zu lassen. Das Gros besteht zwar aus Euro-Trash, doch dazwischen tummeln sich gefühlvolle Balladen (Polen, Portugal), Lieder, von denen man sich durchaus vorstellen kann, dass sie auch mal im Radio laufen (Norwegen), die Spaßfraktion (Spanien, Bosnien-Herzegowina, Frankreich – strickende Bräute, haarwuchsmittelgetränkter Backgroundchor oder mit dem Golfmobil auf die Bühne) – und mindestens ein Beitrag läuft völlig neben der Spur (diesmal das hardrockende Finnland).

Geht man nur nach der Darbietung bei diesem Grand Prix, dann darf man übrigens ab sofort nicht mehr nach Spanien und Frankreich reisen – es könnte die Gefahr bestehen, dort auf noch mehr der beim Contest präsentierten Menschen zu treffen.

Die Kritik am Grand Prix ist nach wie vor die alte: das derzeitige Abstimmungssystem verhindert, dass wirklich der beste Song gewinnt. Sollte Deutschland also in ferner Zukunft mal wieder mit einem richtig guten, kreativen und witzigen Lied starten, dann, auch dann wird es nicht gewinnen. Damit Deutschland wieder einen ersten Platz im Eurovision Song Contest belegt, wird es zuerst wieder in Europa einmarschieren müssen.
Artikelende

siehe auch:

Grand-Prix-Liveblog 2008
Lukas Heinser kommentierte in Echtzeit…

eurovision song contest 2008 (live)
…ebenso wie der Popkulturjunkie.

Grand-Prix-Protokoll
Konrad fand Frankreich am besten…

Telliervision Song Contest
…und Anne kannte Peter Urban nicht.

Wie der Westen sich verschworen hat
Irving Wolther analysiert für Spiegel Online das Grand-Prix-Verschwörungspotential

Grand-Prix-Finale: Das verdiente Debakel
Stefan Niggemeier: Song Contest hat keine musikalische Relevanz

uiuiuiuiuiuiui.de
Manuel Wolff erklärt anhand Grand-Prix-Liedern die musikalische Rückung

Mehr zum Thema Grand Prix auch im
Dossier „Eurovision“

Kommentare


  • Zoe sagt:

    Es muss eben eine gelungene Kombination aus Show, eingängiger Musik, Sangeskunst und vielleicht sogar etwas gutem Aussehen sein.

    Bei den No Angels passte halt einfach zu viel nicht zusammen. Aber beispielsweise die Ukraine hat sicher nicht den 2. Platz gemacht, weil alle unglaublich gerne Ukrainisch wählen oder weil Ukrainer in ganz Europa zahlreich vertreten sind…

  • […] Ihre Browser – und landen dann im Knetfeder-Magazin, finden dort aber nicht die richtige Antwort auf ihre vermeintliche Frage. Daher heute hier eine […]

  • […] Die neuen Abstimmungsregeln unter Beteiligung von „Fachjurys“ und komplizierte Vorausscheidungen tun ein Übriges. Es ist kaum noch nachvollziehbar, warum wer wieviele Punkte erhält. Der Tiefpunkt nicht nur für den deutschen Part des Grand Prix dürfte 2009 erreicht worden sein. siehe auch: Der Eurovision Song Contest 2008 oder Herr Urban hat den einzig möglichen Witz geklaut […]

  • Sergej sagt:

    Und Boaz Mauda, in meinen Augen der Beste aus 2008, hat nun auch sein Debüt-Album vorgelegt:

    http://schwul-und-liberal.blogspot.com/2009/09/sing-nachtigall-sing.html

  • […] in hohen Tönen singt und dabei Vampir-Look glaubwürdiger rüberbringt, hatte Aserbaidschan schon 2008 […]

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