Die Vorschusslorbeeren waren gerechtfertigt. Lena Meyer-Landrut hat das geschafft, wovon Grand-Prix-Fans seit Jahrzehnten träumen und nicht einmal die allerhärtesten Anhänger wirklich rechneten: Deutschland hat zum zweiten Mal seit Bestehen des Wettbewerbs den Eurovision Song Contest gewonnen.
Wobei diese Beschreibung recht unpräzise wäre. Unzweifelhaft hat Lena den Grand Prix gewonnen. Zugleich hat sie mit ihrem Sieg in der Osloer Telenor-Arena bewiesen, dass es beim Grand Prix durchaus nicht auf Effekte und Bühnenshow ankommt, wenn stattdessen tatsächlich Gesang und Authentizität geboten wird.
Deutschland hatte all seine Hoffnungen auf diese junge Frau gesetzt, die die Gunst der Nation in den letzten Wochen mit ihrem mädchenhaften Charme eroberte. Und sie hat in Norwegen das Wunder vollbracht, in den 3 Minuten ihres Auftrittes tatsächlich das typische Lena-Flair in die Wohnzimmer Europas zu tragen.
Keine Chance dem Feuerwerk
Ins Kleid der Sängerin eingewebte Leuchtdioden, die Bühne verkokelnde Pyrotechnik, Frauen in Schmetterlingsroben, Männer in Glitzeroutfit, alles Getanze und Gehopse von dürftigst bekleideten Backgroundchören, heißlaufende Windmaschinen, ja sogar die inzwischen schon peinlich wirkenden Performances mit funkensprühenden Winkelschleifern – es half diesmal alles nichts, die Ablenkung vom Gesang zog nicht.
Die Angst der Künstler, sich nur auf den Gesang zu verlassen, ging soweit, dass sogar überall verloren wirkende Geiger mit auf die Bühne gestellt wurden, sogar dann, wenn im betreffenden Stück überhaupt keine Violine auszumachen war. Zumindest eine Gitarre musste es jedenfalls sein, ohne die kein Solist auskam. Doch auch die progressive Integration von ausgefallenen Instrumenten in die Bühnendarstellung zeigte als ein nur rein dekorativer Charakter keinen Effekt.
Alleinstehend
Lena hingegen kam nur mit einem Mikrofon auf die Bühne, sang, tanzte – und verzauberte ohne jeglichen Schnickschnack nur mit ihrer koketten Art fast ausnahmslos ganz Europa. Mehr noch, sie schien mit ihrer ehrlichen Fröhlichkeit die gesamte Halle anzustecken.
Dagegen kamen auch musikalische Trümpfe nicht an. Irland etwa schickte mit Niamh Kavanagh eine Grand-Prix-Veteranin ins Rennen, die bereits 1993 mit „In your Eyes“ den Grand Prix für Irland gewann. Dieses Mal mit einer weniger schrillen, aber doch kraftvollen Ballade, die die Stimmgewalt von In your Eyes jedoch nicht zu erreichen vermochte.
Musikalisches Einerlei
Allerdings wurde durch Lenas Sieg erneut bewiesen, dass die Musik kaum eine Rolle mehr spielt beim europäischen Musikwettbewerb. Denn unter musikalischen Gesichtspunkten betrachtet ist Satellite – ein Stück, das praktisch nur aus einem einzigen großen Refrain besteht – wahrlich keine besonders anspruchsvolle Komposition. Für sich allein genommen wäre es unter den anderen – insgesamt untereinander austauschbaren – Melodien und Stilen untergegangen.
Schweden kurz vor der Vergabe von 12 Punkten an Deutschland
Wenigstens bei dem Dargebotenen aus Spanien (Daniel Diges mit dem Titel „Algo Pequeñito“, einem sehnsüchtig-melancholischen Liebeslied im Stile eines Zirkuschansons des 19. Jahrhunderts), Russland (Peter Nalitch mit herzschmerzendem Geträller im folkloristischen Stil), Belgien (ein gitarrespielender Ronan-Keating-Verschnitt), Finnland (Volkstümliches mit russischem Einfluss) und Israel und Portugal (gefühlvolle Balladen in Landesprache) konnte man ambitioniertere Harmonien heraushören, Georgien bot gar eine atemberaubende Symbiose aus Gesang und Tanz. Doch das zählte nicht, gewonnen haben Lenas Ausstrahlung und die Interpretation ihres Liedes, nicht ihr Lied selbst.
Die graue Eminenz
Wenn Lena die zweite Nicole ist, dann ist Stefan Raab der zweite Siegel. Der Komponist von „Guildo hat euch lieb“, der Interpret von „Wadde hadde dudde da“, und Förderer von Max Mutzke, der Deutschland vom siegelschen Überangebot befreite, entwickelt sich nun selbst zu einer Art Mr. Grand Prix und schickt sich seinerseits an, den Contest letztendlich durch einen raabschen Alleinvertretungsanspruch zu erdrücken. Allerdings – er hat es geschafft, wovon selbst die härtesten Grandprixler nicht zu träumen wagten. Den Eurovision Song Contest wieder nach Deutschland zu holen.
Babel ist überwunden
Absurdität am Rande: Deutschland hat gewonnen, doch seine Sprache – die zudem in Europa meistgesprochene Sprache – kam in keinem einzigen Beitrag vor. Deutsch ist out. Doch das Phänomen abnehmenden Mutes zur Muttersprache ist kein allein deutsches. Auch fast nahezu alle osteuropäischen Teilnehmerländer sangen auf Englisch, sogar das stolze Russland. Ebenso hatten die nordischen Länder diesmal einen Hang zum Anglophonen: Schweden, Norwegen, Dänemark, Island – alles angelsächsisch. Sprachlich selbstbewusster ist man nur noch im Süden. Vor allem die Faszination früherer Veranstaltungen durch die Einblicke in die vielfältigen Sprachen Europas, sie scheint unwiderbringlich verloren.
Geschadet hat Lena ihr Englisch dennoch nicht. Im Gegenteil, es signalisierte paneuropäischen, kosmopolitischen Anspruch. Der Erfolg gibt ihr recht.
siehe auch:
Mehr zum Thema Grand Prix auch im
Dossier „Eurovision“
Sehr schön zusammengefasst. Dass Lenas Auftritt einen so durchschlagenden Erfolg haben würde, hätte ich wirklich nicht gedacht. Sie hat mit ihrem Lächeln und ihrer Art wohl tatsächlich alle verzaubert.
Dass die Sprachenvielfalt immer mehr verloren geht, ist sehr schade, trotzdem war es ein schöner, unterhaltsamer Abend.
Danke, dass ich beim Livebloggen dabei sein durfte, es hat wirklich großen Spaß gemacht. :)