Auch wenn das Interesse an der nationalen Vorauswahl (Lena oder Lena?) eher verhalten war und sich auch für die Rund-um-Berichterstattung wie auch die beiden Halbfinale kaum jemand interessierte, muss man neidlos anerkennen: das Finale, der Eurovision Song Contest 2011 aus Düsseldorf, war atemberaubend.

Musiknoten in Form der EuropaflaggeDer Grand Prix ist im vereinten Europa das einzige bedeutende Ereignis, das die Europäer tatsächlich einmal zusammenbringt. Und netterweise die angrenzenden Länder aus der Europäischen Rundfunkunion gleich noch mit dazu nimmt, sodass auch Russland, die Türkei und Israel regelmäßig mitmischen. Für Deutschland war daher umso bedeutender, dass der Wettbewerb dank Lenas Sieg im vergangenen Jahr dieses Mal hierzulande ausgetragen wurde. Nach dem stetigen Bedeutungsverlust und schließlich den quasi absoluten Desastern 2005, 2007, 2008 und 2009 hatte niemand mehr damit gerechnet, dass Deutschland einmal wieder an der Spitze sein könnte. Eher, dass die ARD sich vom Grand Prix zurückzieht oder den ESC gänzlich ins Dritte Programm verbannt. Dass es anders kam, es auch nach der Erfolgsgeschichte 2010 nun in Düsseldorf eine phantastische Show wurde, ist wieder einmal Raab & Co. zu verdanken.

Was ist hier los?

Dabei war der Grand Prix in Deutschland eigentlich ein Sammelsurium voller Merkwürdigkeiten. Es begann damit, dass der ESC endgültig zur Privatveranstaltung von Stefan Raab mutierte. Nicht nur, dass er den Lena Meyer-Landrut-Hype überhaupt erst ermöglichte und somit den ESC nach Deutschland holte, nein, er moderierte auch die Sendung und trat selbst in ihr auf. Es hätte wirklich nur noch gefehlt, dass auch das Lied des deutschen Beitrages selbst – wie bereits zwei Mal in den vergangenen Tagen des Grand Prix – wieder von ihm komponiert worden wäre. Raab Total. Neu war auch, dass der Grand Prix infolge des Raab’schen Einflusses zum Gemeinschaftsprojekt von ARD und Pro Sieben wurde – und gleich 3 Moderatoren die Show präsentierten. Immerhin blieben die Austragungsrechte beim NDR, doch auch Pro Sieben übertrug das Halbfinale und stellte neben Raab auch noch Anke Engelke ins erste Programm. Judith Rakers konnte da nur noch als eine öffentlich-rechtliche Alibi-Moderatorin gelten. Immerhin übernahm die Kommentierung wieder Peter Urban – nicht Matthias Opdenhövel oder Elton.

Obwohl der NDR verantwortlich war, Pro Sieben/Raab praktisch die Inhalte lieferten, fand der Grand Prix weder in der Grand-Prix-Hochburg Hamburg, noch in der deutschen Hauptstadt, noch in Raabs Sendehauptquartier Köln statt. Auch Lenas Heimatstadt Hannover blieb außen vor. Was qualifizierte eigentlich Düsseldorf als Austragungsstandort? Der Grund ist dröge und durch und durch pragmatischer Natur: weil das Düsseldorfer Stadion die meisten Leute fasste und die Stadt genügend Mittel bereitstellte, fiel die Entscheidung, den ESC an einem Ort ohne vorherigen ESC-Bezug auszutragen. Berlin konnte peinlicherweise nur ein Zelt (!) auf dem jüngst stillgelegten Flughafen Tempelhof anbieten – es fehlten Wille und Geld. Es ist zwar üblich, dass der ESC in den Hauptstädten Europas stattfindet – aber nicht vorgeschrieben. Doch wäre der Grand Prix vor der Kulisse des Tempelhofer Flughafens jedenfalls stilvoller gewesen als eine Austragung in Fußballstadien oder Messehallen. Hamburg, Köln und Hannover hatten Platz- oder Terminprobleme. Übrig blieb Düsseldorf, dass die Möglichkeiten bot, ein europäisches Großereignis wie den ESC auch wirklich groß herauszubringen. Dass es nicht Hamburg wurde, ist allerdings bitter. Düsseldorf ist immerhin auch eine Hauptstadt, wenn auch „nur“ von Nordrhein-Westfalen. Strenggenommen fand der ESC 2011 symbolisch also nicht in Deutschland, sondern in NRW statt.

Dabei könnte es im Grunde tatsächlich völlig egal sein, wo genau der Grand Prix ausgetragen wird. Denn der Zuschauer würde es ohnehin nicht bemerken, wenn man ihn nicht andauernd darauf hinweisen würde. Der Austragungsort tritt in den Hintergrund, denn das Prozedere für die Ausgestaltung des ESC ist seit Jahren durch und durch standardisiert. Außenauftritt und Ausgestaltung sind so unverfänglich wie möglich geformt. Symptomatisch hierfür ist das Logo, ein stilisiertes Herz, das lediglich mit den jeweiligen Nationalflaggenfarben des austragenden Landes gefüllt wird. Sonst sieht ein Grand Prix aus und läuft ab wie der andere. Die Bühnen sind kaum voneinander unterscheidbar, gesprochen wird einheitlich englisch und französisch, und selbst die Einspielerfilme laufen immer gleich ab: viel zu schnell, belanglos und nichtssagend. Eine Werbeveranstaltung für das austragende Land ist dies nicht.

Eine großartige Show

Für den Düsseldorfer ESC wurde daher bei den beiden Punkten angesetzt, die die einzige Möglichkeit darstellten, mit denen man individuell punkten konnte: Bei der Ausstattung der Bühne und der Moderation. Musste sich Düsseldorf im Vorfeld doch viel Häme anhören (provinziell, beliebig), dürften diese Stimmen nun verstummt sein – die Verwandlung der Düsseldorfer Fußballarena in eine High-Tech-Konzerthalle – das war eine Meisterleistung. Eine Leistung, die einen atemberaubenden Abend erst ermöglichte. Die „Location“ bestätigte zugleich alle Klischees über Deutschland. Eine im wahrsten Sinne des Wortes großartige Show in einem Fußballstadion (Fußball!) als Bühne, eine LED-Showtechnik der Superlative (Ingenieurskunst!) und natürlich ein Ablauf, der so akkurat war wie nach Drehbuch (deutscher Perfektionismus). Im Ausland dürfte sich daher mal wieder der Eindruck verfestigt haben: Wenn die Deutschen etwas machen, dann machen sie’s richtig. Denn „richtig“ war die Arena, richtig gut.


Verloren in den Weiten von Arena und Bühne: Anke Engelke als bildmittelnder Punkt

Das Lichtdesign und die Effekte waren überwältigend und gut abgestimmt, die pulsierenden Elemente der Lichtshow dezent und vereinnahmend zugleich. In Erinnerung bleibt der Eindruck eines landenden UFOs. Die teilbare LED-Leinwand, die zur Abstimmung eine Sichtachse der Künstlerwaben zum Hallengeschehen schuf – unübertroffen. Die LED-Technik ermöglichte ständig wechselnde, animierte „Kulissen“, ganz ohne Bluescreentechnik oder Projektionen.


Dieselbe Bühne, während des französischen Beitrages

Die Dimensionen des Fußballplatzes taten ein Übriges. Dass die Lichtshow dabei fast Riefenstahl’sche Dimensionen erreichte (Flak-Scheinwerfer-artige Lichtkegel senkrecht in den Stadionhimmel gerichtet), darf man spätestens seit dem Jahre 2006 (Fußball-WM!), seitdem auch wieder Deutschlandfähnchen geschwenkt werden dürfen, ohne sich gleich dem Verdacht einer zu nationalistischen Gesinnung ausgesetzt zu sehen, vernachlässigen.


Wunschdenken: Die Außerirdischen entführen die Interpreten schlimmerer Beiträge

Kurz – der ESC in Düsseldorf war auch optisch ein Spektakel. Es ist fast schade, dass an dieser Stelle schon bald wieder Fußball gespielt wird.

Die Moderation

Der NDR richtet in Düsseldorf eine Show für Stefan Raab aus – so könnte man das Geschehen zusammenfassen. Stefan Raab, der bei Pro 7 gefühlt sowieso schon jede Show moderiert, ist damit im Fernseholymp angekommen – als Moderator einer Samstagabendshow im Ersten. Dass die Show der ESC war, das spielte dabei schon fast keine Rolle mehr. Spätestens, als Raab nach dem Sieg Lenas im Jahr 2010 den Song Contest kurzerhand zur Titelverteidigungsveranstaltung umdeklarierte und somit das ungeschriebene Gesetz, dass kein Gewinner des Grand Prix ein zweites Mal in Folge antritt, einfach wegwischte, war klar, dass der Grand Prix im darauffolgenden Jahr zu einer Raab-Show werden würde – was sie dann auch wurde. Raab scherte sich wenig um Konventionen und betrat in Raab’scher Manier Neuland.

Wo gab es das schon in der Geschichte des Grand Prix, dass die Moderation nicht bieder in Frack und Kleid wie mit einem Stock im Rücken erhaben durch den Abend führt, sondern selbst zur E-Gitarre greift, über die Bühne stürmt, die Eurovisions-Fanfare fetzt oder selbst den Saal zur Eröffnung rockt, sodass es selbst dem TV-Kommentaror trotz seiner Kenntnis aus den Proben die Sprache verschlägt? Oder quer über die Bühne sprintete, um bis zum Exzess selbst für Stimmung zu sorgen. Es verwundert fast, dass er sich Engelke und Rakers an die Seite stellen ließ, gebraucht hätte es dies nicht (wenn das ZDF clever ist, wird es Raab „Wetten, dass…?“ anbieten). Dass der ESC nicht zu einer One-Raab-Show wurde, ist dann vor allem auch Anke Engelke zu verdanken. Eine französelnde Engelke, das wirkte stets fast so, als würde sie die Rolle einer Moderatorin nur spielen, statt tatsächlich etwa die Punktevergabe zu moderieren.

Moderation und Einlagen wirkten wie improvisiert, waren aber hochprofessionell und souverän umgesetzt. Das Moderatorentrio, Engelke und Raab voran, nahmen sich bewusst so wenig ernst, dass es beinahe schon wieder ins Aufgesetzte, Bemühtfröhliche abzugleiten drohte. Doch dass die drei tatsächlich ihren Spaß hatten, das nimmt man ihnen unbesehen ab.

Erinnert sich noch jemand an die Lieder?

In Deutschland war mittlerweile so etwas wie eine Lena-Ernüchterung, vielleicht auch eine Art Trotzeffekt zu spüren, was dem Lena-Überangebot geschuldet sein dürfte. Doch ob Deutschland Lena noch gut findet, war zumindest für den ESC ohne Belang, denn anrufen und abstimmen durften sie ja sowieso nicht für sie. Ihren Auftritt absolvierte Meyer-Landrut mit Bravour und man darf spekulieren, ob sie als unbekannte Künstlerin mit diesem Titel erneut Siegeschancen gehabt hätte – oder sie noch weiter hinten in der Platzierung gelandet wäre.

Musikalisch entwickelt sich der Grand Prix weiterhin zu einem mainstreamigen Einheitsbrei. Das typische ESC-Lied fällt in eine der folgenden fünf Kategorien: Ballade, Partylied/Schlager, Discosong, Volkstümlich Wirkendes, Unkonventionelle Darbietung. Jedes Land entscheidet jedes Jahr einfach neu, in welcher Kategorie es auftreten will. Das Phänomen ist, dass am Ende doch immer eine irgendwie geartete Mischung steht, die wenigstens innerhalb dieser Kategorien Abwechslung verheißt.

Keine Abwechslung gibt es weiterhin bei der Sprache der Beiträge. 95% aller Lieder werden auf Englisch gesungen. Allein Frankreich, Italien, Serbien und Spanien sangen in Landessprache. Doch die Sprache des Gesangs spielt ohnehin nur eine untergeordnete Rolle. Zwischen all den Rhythmen und Choreographien muss sich der geneigte Zuhörer anstrengen, dem gekeuchten Liedtext folgen zu können. Setzt sich der Trend fort, könnte man die Veranstaltung demnächst auch guten Gewissens in Eurovision Dance Contest umfirmieren. Beiträge, die ohne exzentrische Choreographie oder sogar selbst wild herumhopsende und nach Atem ringende Sänger auskamen, waren wie stets rar gesät.

Der Gewinnertitel aus Aserbaidschan bot gar beides – tanzende Interpreten und performende Staffage. Finnland setzte auf Unterstützung allein durch eine Gitarre, Österreich auf einen Gospelchor, Frankreich vertraute ganz allein auf die Stimme seines Vertreters. Ansonsten dominierte das Bild vor der Musik. Wäre das osteuropäische Abstimmungsverhalten nicht gewesen, hätte gar die Darbietung aus Schweden den Sieg davongetragen, eine mehr aus Tanz als Tönen bestehende Disconummer, die sich zwar auf jedem Schulhof-Handy wunderbar macht und bei der alles im Mittelpunkt steht – nur nicht Musik und Gesang.

Auffällig bei den diesjährigen Vertretern der Länder war zudem, dass viele einen Castingshow-Hintergrund hatten oder sogar durch eine Fernseh-Castingshow überhaupt erst ins Musikgeschäft kamen. So waren die Sängerinnen aus Österreich und Estland zuvor Kandidatinnen solcher Shows gewesen – oder eben auch Lena. Die Entwicklung hin zur durchgecasteten Gesellschaft hat sich nun also auch definitiv beim Grand Prix bemerkbar gemacht – ohne Casting scheint nichts mehr zu gehen.

Fazit

Mit Aserbaidschan hat ein Land gewonnen, das in den vergangenen Jahren stets Mut bei der Wahl der Präsentation bewies und mit interessanten und gewagten Beiträgen am ESC teilnahm. Den Grand Prix ins Land geholt hat es nun aber mit einem eher unscheinbaren Auftritt. Interessant wird es, wie der ESC 2012 – im Verhältnis zur pompösen Vorlage in Deutschland – ausgestaltet sein wird. Aber vielleicht holt sich das Land nördlich des Irans ja ebenfalls wie die ARD die Unterstützung von Stefan Raab. Dass die ARD Raab den Grand Prix fast allein mit Ideen und Inhalt füllen lassen hat, darf sie sich getrost als Bankrotterklärung zurechnen lassen. Stefan Raab – der eigentliche Gewinner des Grand Prix 2011 (gemeinsam mit der LED-Leinwand) – hingegen muss aufpassen, dass er den Zenit seines Erfolges nicht verpasst und sich schleichend vom erfolgsverwöhnten zum nervenden, alles dominierenden Mr. Grand Prix entwickelt, der irgendwann ebenfalls einmal von seinen Nachfolgern auf die Schippe (Stichwort: „Alf Igel“) genommen wird.

Artikelende

Weiterführendes

Weshalb Düsseldorf die richtige Wahl war

Weshalb Düsseldorf nicht die richtige Wahl war

Abstimmungsverhalten nach Himmelsrichtungen

Claas Triebel hat einfach mal mitgeklatscht

Live-Bloggen zum Grand Prix in Düsseldorf

Eurovisions-Dossier

Kommentare


  • […] vorhanden, nein, sondern schlicht und einfach aus dem Grund, weil der aserbaidschanische Beitrag zum Wettbewerb 2011 eben gewonnen hatte. Doch auf einmal meldete sich das politische Gewissen zu Wort: Darf der Grand […]

  • […] in den letzten Jahren immer größer, immer bombastischer wurde (das Maximum wurde bislang in Düsseldorf und Baku erreicht), hatten sich die schwedischen Ausrichter nun dafür entschieden, wieder einen […]

  • Ah, elle veut se la jouer littéraire la dinde.

  • […] Wienern gelang das Kunststück, die Pompösität, die der ESC in den letzten Jahren angenommen hatte, noch zu übertreffen. Die Wiener Philharmoniker, das ORF-Radiosymphonieorchester und der Chor mit […]

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