Die frühe Eltern-Kind-Beziehung

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Bindungsaufbau im alltäglichen Austausch

»Die Bindungstheorie ist vor allem ein besonderer Weg,
über menschliche Entwicklung nachzudenken.«
( Grossmann; Grossmann; Winter & Zimmermann: Bindung und seelische Entwicklungswege )

Der folgende Text ist im Rahmen meiner Diplomarbeit entstanden. Die Arbeit beschäftigt sich mit der elterngerechten Vermittlung von bindungstheoretischen Konzepten und Ergebnissen der Eltern-Säuglings-Interaktionsforschung in Elternliteratur.

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Inzwischen habe ich sowohl meine Diplomarbeit als auch darauf aufbauend meine Dissertation abgeschlossen. Dennoch interessiert mich weiterhin sehr, wie Eltern den Text hinsichtlich seiner Verständlichkeit, Nützlichkeit oder einfach “Interessantheit” einschätzen. Daher bitte ich alle Leser des folgenden Textes, mir ein kleines Feedback über das Kontaktformular am Ende des Artikels (auf Seite 4) zukommen zu lassen. Danke!

zur Tabelle "Entwicklungsübersicht"Das Wichtigste ganz kurz zusammengefasst:

  • Bindung ist die besondere, enge, gefühlsgetragene Beziehung zwischen Eltern und Kind, die nach einem halben Jahr des alltäglichen Umgangs und des Austauschs miteinander gefestigt ist. Jedes Kind baut eine solche Bindung zu seinen Eltern auf, denn sein Bedürfnis nach Zuwendung und Sicherheit ist ebenso grundlegend wie jenes nach Nahrung.
  • Bereits Babys können sich an mehr als eine Person binden.
  • Je nach Verhalten der Eltern im Austausch und bei der Versorgung des Babys kann die Bindung des Babys an seine Eltern sicher oder unsicher sein. Bei zuverlässiger, liebevoller und einfühlsamer Betreuung entsteht eher eine sichere Bindung als unter einem Mangel an Zärtlichkeit, Fürsorge und wenig oder unbeständig einfühlsamer Behandlung des Babys. Mit spätestens einem Jahr unterscheiden sich sicher und unsicher gebundene Babys deutlich im Verhalten voneinander.
  • Die Sicherheit der Bindung hat Auswirkungen auf die Gesamtentwicklung und die Persönlichkeit des Babys. Die Entwicklung von sicher gebundenen Kindern verläuft positiver und problemloser. Sie haben ein höheres Selbstwertgefühl und sind vor Verhaltensproblemen und seelischen Erkrankungen besser geschützt. Ihr allgemeines Beziehungsverhalten ist offener und vertrauensvoller.
  • Je feinfühliger die Eltern mit ihrem Baby umgehen, desto wahrscheinlicher ist der Aufbau einer sicheren Bindung. Feinfühlige Eltern beobachten ihr Baby aufmerksam, finden seine Bedürfnisse anhand feinster Äußerungen des Babys heraus und kommen ihnen auf passende Weise schnell nach.
  • Ein Baby kann nicht verwöhnt werden. Auf jedes Bedürfnis des Babys soll eingegangen werden, damit das Baby Verlässlichkeit erfährt und ein grundlegendes Vertrauen in seine Welt erwirbt.
  • Das Baby selbst trägt mit Hilfe seiner angeborenen Verhaltensausstattung aktiv viel zum Gelingen der Beziehungsaufnahme zu seinen Eltern bei. Es kann sich von Anfang an mitteilen, sich am Austausch beteiligen und auf Antworten seiner Eltern reagieren.
  • Die Eltern sind ebenfalls bestens für den bindungswichtigen Austausch mit ihrem Baby vorbereitet. Sie verstehen Babys nichtsprachliche Äußerungen intuitiv und antworten ihm so, dass es sie auch verstehen kann. Diese elterliche Intuition sollte ausgelebt und keinesfalls unterdrückt werden, denn sie ist sehr wertvoll für die Entwicklung des Babys und den Bindungsaufbau.
  • Durch die gegenseitige Angepasstheit der Fähigkeiten von Baby und Eltern entstehen im Zwiegespräch und wechselseitigem Austausch „Engelskreise“: die Eltern sind stolz und zufrieden, das Baby ist glücklich und fühlt sich sicher und verstanden. Die besten Voraussetzungen zum Lernen sind geschaffen.
  • Teufelskreise“ sind andauernd gestörte Abläufe des Austauschs zwischen Eltern und Baby. Halten diese an und werden die „Engelskreise“ immer weniger, ist professionelle Unterstützung notwendig.
  • Das Fremdeln, das etwa im 8. Lebensmonat des Babys beginnt, ist ein Zeichen der sich entwickelnden oder gefestigten Bindung zu seinen Eltern. Es ist ein positives Zeichen der Entwicklung und daher kein Grund zum Ärgern oder zur Sorge. Das fremdelnde Baby sollte getröstet und beruhigt werden. Fremdeln ist eine Entwicklungserscheinung, die von alleine vorübergeht.
  • Sobald das Baby sich fortbewegen kann, muss es sein persönliches Gleichgewicht finden zwischen der Erkundung der Umwelt, die auch Gefahr und Angst beinhaltet, und der Bindung, die Sicherheit gibt. Das optimale Gleichgewicht finden Babys, deren Eltern ihnen als „sicherer Hafen“ während der Erkundung zur Verfügung stehen, in dem es „auftanken“ und sich Zuwendung und Trost holen kann.
  • Betreuung durch andere Personen ist grundsätzlich auch im ersten Jahr möglich, wenn das Baby langsam an die Betreuerin gewöhnt wird und eine Bindung zu ihr aufbauen kann, bevor es mit ihr alleine gelassen wird. Bei der Betreuerin soll es sich um die immer selbe Person handeln, der auch die Eltern voll vertrauen können.

Liebe Eltern,

Sie haben (oder wollen vielleicht demnächst) ein Baby bekommen. Wahrscheinlich haben sie an einem Säuglingspflege- oder Geburtsvorbereitungskurs teilgenommen, wo Sie gelernt haben, wie man ein Baby füttert, wickelt, wäscht und trägt. Aber zur gesunden Entwicklung Ihres Babys gehört viel mehr als nur sein körperliches Wohl. Um gesund und glücklich heranwachsen zu können, muss Ihr Baby sich geliebt und in all seinen Bedürfnissen verstanden fühlen. Hierzu gehört auch sein großes, lebenswichtiges Bedürfnis nach zuverlässiger, einfühlsamer Zuwendung und Sicherheit durch die Menschen, die ihm am nächsten stehen – durch Sie als seine Eltern.

Diese Informationsschrift führt Sie in aktuelle Erkenntnisse der Forschung über die Eltern-Kind-Beziehung und die Säuglingsforschung ein, die im ersten Lebensjahr Ihres Kindes für Sie bedeutsam sind. Es geht dabei nicht darum, Ihnen bis ins Detail vorzuschreiben, wie Sie den Umgang mit Ihrem Baby gestalten sollen. Vielmehr sollen die hier bereitgestellten Informationen Ihnen eine Wissensbasis bieten, auf deren Grundlage Sie Ihr Baby und seine Sichtweise besser verstehen können. Dieses Verständnis wird Ihnen vielleicht helfen, in Situationen der Unsicherheit das Richtige für Ihr Baby zu tun. Ihr Baby macht dadurch immer wieder die schöne und wichtige Erfahrung, dass es sich erfolgreich mitteilen kann. Es erlebt, dass Sie verstehen, was es braucht, und dass Sie ihm dies auch geben möchten und können. Mit dieser Sicherheit und dem früh verankerten Gefühl des Vertrauens kann Ihr Baby sich körperlich und seelisch gesund entwickeln.

Trotzdem ist es wichtig für Sie zu wissen, dass Ihr Baby keine Perfektion von Ihnen erwartet. Kleine Unstimmigkeiten gehören zum Leben, und auch ein Baby kann schon lernen, damit umzugehen, so lange es sich im Großen und Ganzen sicher sein kann, dass Sie da sind und immer versuchen, seine Bedürfnisse zu verstehen.

Die Bindung zwischen dem Baby und seinen Eltern

Während sich die Bindung der Eltern zu ihrem Baby recht schnell festigt, entsteht eine stabile Bindung des Babys an seine Eltern langsam im Laufe der ersten sechs bis acht Monate. Doch was ist mit dem Begriff “Bindung” überhaupt gemeint? Gedanklich fallen einem spontan Verknüpfungen ein wie Beziehung, Liebe, die Nähe eines anderen Menschen brauchen, sich sicher fühlen, Gefühle miteinander teilen, fürsorglich miteinander umgehen und sich auch füreinander verantwortlich fühlen.
Angesichts solcher Bedeutungen und Inhalte des Begriffes wird schnell klar, dass man nur zu wenigen Menschen eine Beziehung hat, die tatsächlich als “Bindung” bezeichnet werden kann. Die einzigartige Beziehung zwischen dem Baby und seinen Eltern gehört zu diesen wenigen und nimmt gleichzeitig eine Sonderstellung unter ihnen ein. Denn für ein Baby hängt, anders als bei Bindungen zwischen Erwachsenen, viel mehr als Wohlbefinden und Glück von der Bindung zu seinen Eltern ab: sein Überleben.

Bindung
im Sinne der Bindungstheorie:


Enges, gefühlsgetragenes Band zwischen Elternteil und Kind, das nach einem halben Jahr des alltäglichen Umgangs und der Erfahrungen miteinander gefestigt ist und langandauernd besteht. Lebenslanges Grundbedürfnis jedes Menschen.

Die Bindungstheorie, eine einflussreiche psychologische Theorie von John Bowlby, besagt, dass das Bedürfnis des Menschen nach Bindung genauso bedeutsam für sein Überleben ist wie etwa sein Bedürfnis nach Nahrung oder nach Kennenlernen seiner Umwelt. Dennoch stehen in vielen Informationen für Eltern die geistige und körperliche Entwicklung oder die Pflege des Babys viel mehr im Vordergrund als die Entwicklung seiner Gefühlswelt, die eng mit dem Aufbau von Bindungen zwischen dem Baby und den Eltern zusammenhängt. Ergebnisse aus der Bindungsforschung weisen aber darauf hin, dass das erste Lebensjahr des Babys, in dem auch die grundlegenden Bindungen entstehen, entscheidend ist für die Entwicklung von Beziehungsfähigkeit, Vertrauen und eines grundlegenden Gefühls von Sicherheit. Es ist die Zeitspanne, in der für die gesamte Lebenszeit die Grundmuster für Beziehungen und das Verhalten innerhalb dieser gelegt werden. Trotzdem ist diese bedeutende Phase keine Prägungsphase – auch in späteren Entwicklungsphasen können neue Beziehungserfahrungen die Bindungsfähigkeit beeinflussen. Aber positive Grundsteine als Basis sind nötig, damit die Entwicklung des Kindes in allen Bereichen gelingen kann.

Diese Informationsschrift soll vor allem Eltern mit der Denkweise der Bindungstheorie bekannt und mit dem Gedanken vertraut machen, dass die Art, wie sie mit ihrem Baby in seinem wichtigen ersten Jahr umgehen, die Art seiner Bindung zu ihnen bestimmen wird, die wiederum sein ganzes Leben lang wichtige Teile seiner Persönlichkeit beeinflussen wird.

Die Grundannahmen der Bindungstheorie – Babys brauchen Bindung!

Das Baby kommt mit Verhaltensweisen auf die Welt, die es ihm vom Moment der Geburt an ermöglichen, Beziehungen zu anderen Menschen einzugehen und aufrecht zu erhalten. Zu diesen Verhaltensweisen gehören direkt nach der Geburt vor allem das Weinen und das Anblicken, aber bald ist das Baby auch in der Lage zu lächeln, zu brabbeln, sich anzuklammern, und später kann es auch durch Robben, Krabbeln und Laufen Kontakt herstellen. Die Entwicklung dieser Verhaltensweisen ist unfehlbar im Baby angelegt, und Erwachsene reagieren nahezu automatisch auf solche Kontaktwünsche eines Babys. Das Baby ist also genetisch bereits bestens dafür ausgerüstet, eine Beziehung zu Menschen herzustellen und ihnen ganz ohne Worte seine Bedürfnisse mitzuteilen, um im Laufe des ersten Lebensjahres die lebenswichtige Bindung zu ihnen aufzubauen.

Die Bindung entsteht in der regelmäßigen Begegnung von Eltern und Kind im Alltag. Während das Baby versorgt, gepflegt und beschützt wird, findet auch ein gefühlsmäßiger und spielerischer Austausch zwischen ihm und seinen Eltern statt, der ähnlich wie intensive Gespräche zwischen Erwachsenen dazu führt, dass Baby und Eltern sich immer besser kennenlernen. Die so entstehende persönliche Bindung des Babys an seine Eltern ist nicht einfach übertragbar auf andere Personen, d.h., das Baby bindet sich genau an jene Menschen, die seinen körperlichen, aber vor allem seinen gefühlsmäßigen Bedürfnissen zuverlässig und regelmäßig nachkommen. An dieser Stelle muss betont werden, dass das Baby durchaus bereits in der Lage ist, zu mehr als einem Menschen eine Bindung aufzubauen, und dass diese Menschen nicht seine leiblichen Eltern sein müssen. In den meisten Fällen sind es aber natürlich zunächst einmal seine beiden Elternteile, an die es Bindungen entwickelt, und darüber hinaus vielleicht noch an ein oder zwei weitere Menschen, die sich ihm regelmäßig zuwenden. Diese Bindungen stehen in einer Hierarchie, d.h., das Baby bevorzugt möglicherweise eine bestimmte Person, wenn es Trost braucht, und eine andere, wenn es spielen möchte. Die aus dem intensiven Zusammensein und auch aus der Abhängigkeit des Babys entstehende Bindung bleibt normalerweise lange erhalten, manchmal gar ein Leben lang, und ist mit so intensiven Gefühlen wie Liebe verbunden.

Bindung ist nicht gleich Bindung

Bindung zwischen dem Baby und den Menschen, die es versorgen, verbunden mit den ersten Gefühlen, entwickelt sich also auf jeden Fall, und zwar unabhängig davon, ob diese Menschen “gut” oder “schlecht” zu ihrem Baby sind, es lieben oder es vernachlässigen. Das Baby kommt einfach mit der Anlage und entsprechenden Verhaltensweisen zum Bindungsaufbau zur Welt und kann sich nicht aussuchen, ob und an wen es sich binden möchte.

Obwohl jedes Baby daher zwangsläufig eine Bindung an seine Eltern entwickelt, unterscheiden sich die “Qualitäten” dieser Bindungen. Ein Baby, das von seinen Eltern eher vernachlässigt wird, wird demnach eine andere Art von Bindung zu ihnen entwickeln, als eines, das zuverlässig und liebevoll versorgt wird. Es sind also die ersten Erfahrungen, die das Baby im Laufe seines ersten Jahres mit seinen Eltern gemacht hat, die die Qualität seiner Bindung an sie beeinflussen. Eine solche Bindungsqualität lässt sich gegen Ende des ersten Lebensjahres des Babys feststellen. Zu diesem Zeitpunkt unterscheiden sich Kinder mit verschiedenen Bindungsqualitäten untereinander bereits in Verhalten und Gefühlsäußerung.

Sichere und unsichere Bindungen

Wenn das Baby etwa ein Jahr alt ist und sich immer freier alleine bewegen kann, zeigt sich deutlich seine persönliche Art der Bindung an seine Eltern. Von diesem Zeitpunkt an kann nicht mehr nur der Erwachsene, sondern auch das Baby selbst über Trennung und Rückkehr entscheiden: es kann z.B. seiner sich entfernenden Mutter nachlaufen oder sich selbst von ihr fort bewegen, um ein interessantes Spielzeug zu begutachten. In der Art, wie Baby und Eltern dieses Wechselspiel von Trennung und Wiederfinden gestalten und welche Gefühle sie dabei äußern, zeigt sich, inwieweit das Baby seinen Eltern vertraut.
Ein Baby, das bisher überwiegend zuverlässige Zuwendung, einfühlsame Betreuung und liebevolle Versorgung erfahren hat, zeigt mit einem Jahr eine sichere Bindung an seine Eltern. Dieses Baby kann sich innerlich ganz fest darauf verlassen, dass seine Eltern zur rechten Zeit das Richtige für es tun – es kann vertrauen.
Hat ein Baby im ersten Jahr jedoch eher einen Mangel an Zärtlichkeit und Fürsorge erlebt, wurde es wenig oder nur unbeständig einfühlsam behandelt oder musste es oft zu lange warten, bis seine Bedürfnisse nach Zuwendung erfüllt wurden, wird seine Bindung an seine Eltern eher von Unsicherheit geprägt sein.
Forschungsergebnisse zeigen deutliche Verhaltensunterschiede zwischen sicher gebundenen und unsicher gebundenen Babys.
Sicher gebundene Kinder sind meist aktiver bei der Erforschung ihrer Umgebung und im Spiel. Auf Trennungen von ihren Eltern reagieren sie mit klar ausgedrückter Verunsicherung, Angst und Unterbrechung ihrer Spielaktivitäten. Diese Kinder zeigen sich eindeutig froh und erleichtert, wenn ihre Eltern wiederkommen und suchen sofort deren tröstende Nähe. Sie brauchen dann nur eine kurze Zeit der Zuwendung ihrer Eltern zum “Auftanken”, bis sie sich wieder lösen und weiterspielen können.
Unsicher gebundene Kinder reagieren entweder besonders stark auf Trennungen von ihren Eltern oder aber äußerlich gar nicht. Im ersten Fall ist das Baby aufgrund seiner früheren Erfahrungen so unsicher, ob seine Eltern ihm nach einer Trennung auch wirklich wieder zuverlässig zur Verfügung stehen werden, dass es alles daran setzt, sie gar nicht erst gehen zu lassen. Überhaupt neigen diese Kinder dazu, sich in vielen Situationen eher auf ihre Eltern zu konzentrieren, statt sich voll und ganz ihrem Spiel zu widmen. Außerdem übertreiben sie häufig ihre Hilfsbedürftigkeit, da sie gelernt haben, dass ihre Eltern auf weniger intensive Unmutsäußerungen nicht zuverlässig eingehen. So können sie sich auch beim Wiedersehen nach einer kurzen Trennung nur schwer wieder von den Eltern lösen, denn sie finden keinen wirklichen Trost in ihrer Rückkehr. Im zweiten Fall der unsicheren Bindung reagieren die Kinder äußerlich weder auf Trennungen von ihren Eltern noch auf das Wiedersehen: Nichts deutet darauf hin, dass überhaupt eine Trennung stattgefunden hat. Dieses Verhalten zeigt, dass das Baby schon früh mit Zurückweisung durch seine Eltern zurechtkommen musste, wenn es ihre Zuwendung dringend benötigte. Seine Strategie, mit der Gefahr der Zurückweisung umzugehen, besteht in der Vermeidung des engen Kontakts. Das Kind ahnt, dass ein demonstratives Ausleben seiner gefühlsmäßigen Bedürfnisse zu noch mehr Ablehnung führen würde. Durch körperliche Untersuchungen ist bekannt, dass auch diese Babys – ebenso wie die der beiden anderen Gruppen – Angst verspüren, wenn ihre Eltern sie alleine lassen. Sie haben lediglich gelernt, ihren Trennungsschmerz nicht zu zeigen, aber “der Körper spricht die Sprache der Seele.” (Pfluger-Jakob, M. [2001]: So entwickelt sich mein Kind. – Freiburg i. Br., S. 68.)

Auswirkungen der Bindungsqualitäten

Die Qualität der Bindung beeinflusst aber nicht nur das Verhalten des Babys in Trennungssituationen, sondern hat noch weitaus bedeutendere Auswirkungen auf seine Gesamtentwicklung und seine Persönlichkeit. Kinder mit unterschiedlichen Bindungsqualitäten nehmen ein je anderes Bild von der Verlässlichkeit der Welt aus ihren ersten Bindungen in ihre Entwicklung mit. Aus den frühen Bindungsqualitäten des Babys an seine Eltern lässt sich ziemlich genau ableiten, wie das Baby sich später als Kleinkind, Kind und sogar als Erwachsener im Umgang mit anderen Menschen und mit Belastungen verhalten wird.

Erkundung in Sicherheit

Zunächst hat die Art der Bindungen des Babys Auswirkungen auf sein Erkundungsverhalten. Normalerweise ist ein Baby von Natur aus neugierig, will zu anderen Menschen Kontakt aufnehmen, die Dinge in seiner Umgebung kennenlernen, sie erforschen und spielen. Durch diese angeborenen Verhaltensweisen lernt das Kind alles Nötige über seine Welt und ihre Gesetzmäßigkeiten. Somit bildet die Erkundung eine wichtige Voraussetzung für die geistige Entwicklung. Eine sichere Bindung geht mit der Bereitschaft zur Erkundung der Umwelt einher, denn nur ein sicher gebundenes Kind traut sich, den Rockzipfel seiner Eltern loszulassen und sich konzentriert der Umwelt zuzuwenden. Es muss nämlich keine Angst haben, dass seine Eltern es verlassen, sobald es sich von ihnen löst, und kann sicher sein, dass seine Eltern ihm bei Verunsicherung oder Angst sofort wieder zur Verfügung stehen werden. Unsicher gebundene Kinder hingegen sind oft zu abgelenkt, um sich intensiver mit ihrer dinglichen Umwelt auseinanderzusetzen. Die einen sind sich so unsicher, ob ihre Eltern für sie da sein werden, falls sie sie benötigen, dass sie sich nicht auf die Erkundung konzentrieren können, weil sie ihre Eltern am liebsten nicht aus den Augen ließen. Die anderen wissen, dass sie im Notfall nur wenig Trost und Zuwendung ihrer Eltern erwarten können, falls sie während ihrer Erkundungsgänge verunsichert oder verängstigt würden. Sichere Bindungen führen also dazu, dass das Baby mehr sieht, mehr erlebt und auf diese Weise viele Entwicklungsanreize erhält.

Entwicklung

Außerdem haben Studien ergeben, dass sicher gebundene Kinder besser mit Gleichaltrigen umgehen können, weniger Probleme mit ihnen haben und weniger aggressiv sind als unsicher gebundene Kinder. Auch entwickeln sie ein besseres Selbstwertgefühl, sind aufmerksamer und kreativer und können im späteren Leben besser mit Krisen und Belastungssituationen umgehen. Man kann davon ausgehen, dass eine sichere Eltern-Kind-Bindung eine schützende Funktion vor Verhaltensproblemen und seelischen Erkrankungen einnimmt.

Spätere Beziehungsfähigkeit

Zusätzlich werden die frühen Bindungserfahrungen eines Menschen und das Erlebnis der Verlässlichkeit anderer Personen mit seiner späteren Beziehungsfähigkeit in Zusammenhang gebracht. Ein Kind mit positiven Bindungserfahrungen wird durch sein früh erworbenes Vertrauen in die Zuverlässigkeit anderer Menschen leichter Beziehungen zu ihnen eingehen können. Es überträgt seine Vorstellung von “guten Menschen” und verlässlichen Beziehungen als Quelle des Trostes, der Bestätigung und der Liebe auf neue Situationen. Dazu gehört auch die eigene Elternschaft: Menschen, die als Kinder negative Bindungserfahrungen machen mussten, können häufig auch zu ihren eigenen Kindern keine sicheren Bindungen aufbauen.

Trotz dieser weitreichenden Auswirkungen der ersten Eltern-Kind-Bindung auf die weitere geistige, seelische und soziale Entwicklung des Babys ist sie nicht der einzig wirksame Faktor. Auch in späteren Lebensphasen spielen Umwelteinflüsse und Ereignisse eine wichtige Rolle für die Persönlichkeitsentwicklung, aber die grundlegende Bedeutung der frühesten Lebensphase lässt sich nicht leugnen, denn sie bestimmt, ob der Mensch ein Gefühl der Sicherheit oder eines der Ängstlichkeit als ersten Eindruck von seiner Welt in seine Entwicklung mitnimmt.