Natur & Umwelt
Naturverbundenheit in der Großstadt

Natur und Berlin - das ist schon ein Widerspruch in sich. Dabei
könnte man, wenn man beispielsweise Berlin aus der Luft
betrachtet, auf die Idee kommen, es handele sich um eine wunderbar
grüne Oase inmitten der brandenburgischen Tundra: Überall
quillt ein sattes Grün aus der Stadt. Aber sobald man einen
näheren Blick riskiert, offenbart sich einem das ganze Übel,
denn der oberflächliche Blick täuscht: Das viele Grün,
was man aus der Luft sieht, stammt von den zahlreichen Bäumen, die
von unten allerdings schon gar nicht mehr so schön aussehen: Die
Rinde ist vom vielen Straßendreck verstaubt, in den Ästen
hängen Plastiktüten und sonstiger Zivilisationsabfall und an
den Stämmen hat man zur Verkehrssicherheit eine hässliche
großflächig weiße Markierung aufgemalt, damit auch bloß
kein Autofahrer beim Einparken seinen Lack zerkratzt.

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Ein typisches Berliner Naherholungsgebiet.
Der Flasche gefällt's... |
Steht der Baum mal nicht in der Nähe eines Parkplatzes (was eher
selten vorkommt), dann haben ihn die Berliner mit Kleinanzeigen,
Wohnungsgesuchen und zusätzlichen, nebenberuflichen
Verdienstmöglichkeitsofferten ("10.000 Euro schon ab der ersten
Woche - Rufen Sie an!") zugekleistert. In vielen Bäumen hat sich
außerdem die Miniermotte eingenistet, die dafür sorgt, dass
vor allem Kastanien schon im August ihre Blätter verlieren. Und
würde das nicht alles schon reichen, trägt jeder Baum auch
noch - preußisch korrekt - eine Nummer auf einer
angenagelten Metallplakette. Soviel Ordnung muss sein.

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Sieht doch so richtig weltstädtisch aus und ist viel billiger als Leitplanken: einfach die Bäume mit Tipp-Ex anmalen.
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Wohlgemerkt - wir sprechen hier nur von einzelnen Bäumen. Wenn man
wirklich einmal Bedürfnis nach einem richtigen Wald hat, dann muss
man schon nach Brandenburg fahren - natürlich per Auto oder mit
der Bahn.
Wer die Zeit oder die
Nerven dazu nicht hat, der fährt alternativ in den Tiergarten oder
in den Grunewald mit seinen vielen Seen (die mehr oder weniger winzigen
Berliner Parkanlagen klammern wir hier einmal aus, denn wer will sich
schon in von Metallbändern eingezäunten Rasenflächen mit
brennenden Mülleimern, zwei Zentimeter tiefen und umgekippten
Tümpeln, abmontierten Bänken oder in Gegenwart von auf der
Stelle laufenden Joggern erholen?).

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"Geschützte Grün-
anlage". Eindeutig.
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Beim
Tiergarten könnte man allerdings Pech haben, denn dessen von den
dort campierend-grillenden Großfamilien übriggelassene
letzte grüne Flecken werden in beinahe alljährlicher
Regelmäßigkeit von einfallenden Horden lautstark
demonstrierender "Musik-Liebhaber" in einen morastigen Sumpf
verwandelt. Aber auch im Grunewald darf man sich vom Namen nicht
irreführen
lassen: Waldgefühl kommt hier nicht auf. Wo man andernorts die
gute Luft genießt, nimmt man dort als erstes den
übersäuerten Geruch der allerorts urinierenden Hunde wahr.
Tritt man dann als nächstes nicht gerade in eine
Hinterlassenschaft selbiger, dann aber garantiert auf die
Füße des Vordermannes, denn auch im Berliner Wald gilt
ebenso das Gesagte wie zum Punkt Öffentlicher Raum.
Gerade an Feiertagen oder Wochendenden sollte man Waldgebiete besser
nicht betreten, ohne am Eingang eine Nummer gezogen zu haben. Wenn man
sich dann in die Reihe der "Waldläufer" eingereiht hat, wird es
erst richtig interessant: An den Lärm, den tausende
Ausflügler in ansonsten ruhiger Umgebung erzeugen, gewöhnt
man sich nach wenigen Minuten. Aber nehmen Sie mal keine Hunde
wahr, dann schwebt eine Überdosis des billigen Parfüms der
neben Ihnen laufenden Wilmersdorfer Witwe durch die Lüfte oder
aber die Ausdünstungen der schweißtriefenden
Dauerläufer, von denen Sie im ohnehin ständigen
Gedrängel immerzu überholt werden. Auch optisch ist es mit
den städtischen Wäldern nicht weit her: Berlin ist eine der
wenigen Städte, in denen man auch bei Bäumen nicht auf
Graffiti verzichtet - so bleibt einem auch in "tiefster Natur" die
urbane Vertrautheit erhalten.
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