Das war er: Der Eurovision Song Contest 2007. Bunt, dezent, laut, leise, absurd, gewöhnlich – und den Eindruck hinterlassend, dass das „alte Europa“ nicht mehr die (Stil-)Richtung vorgibt.

Nehmen wir es vorweg: Das Spannendste am diesjährigen „Eurovision Song Contest“, dem ehemaligen Grand Prix Eurovision de la Chanson, war das Mitfiebern. Nicht danach, wer den schönsten Song ablieferte, die absurdeste Choreografie hinlegte oder einfach wie in den letzten Jahren den lautesten Krach machte bzw. am Ende dafür die meisten Punkte bekommen sollte, nein, diesmal wurden nicht vor den Fernsehern Wetten abgeschlossen, wer am Ende gewinnt – sondern wann Live-Kommentator Peter Urban sich wohl das nächste Mal verhaspeln würde.

Musiknoten als EuropasterneDer unsichtbare und auch nur für die Zuschauer der ARD hörbare, seit 1997 traditionell eingesetzte Grand-Prix-Präsentator war mit seinem bissig-trockenen und schonungslosen Humor, mit dem er in den vergangenen Jahren so manchen Teilnehmer des Liederwettstreits durch den Kakao zog, der eigentliche Grund, weshalb man sich den Contest gerne ansah. In den vergangenen Jahren. Dieses Mal rettete Urban sich mit eher mauen Witzchen durch die Einspielerpausen und ließ das Dauerversprechen „…es wurde in allen Ländern abgewählt“, „…ehemalige Republik… äh, ehemalige jugoslawische Republik…“ zu seinem neuen Markenzeichen werden.

Doch würde man den Grand Prix nur an der deutschen Kommentierung messen, täte man den Gastgebern in Helsinki Unrecht, lieferten die Finnen doch einen wirklich unterhaltsamen Abend ab, was nicht zuletzt daran lag, dass sich sowohl die Co-Moderatorin als auch die filmischen Darbietungen wohltuend selbstironisch von den sonst üblichen biederen Landesschauen abhoben. Ohne die musikalischen Einlagen zwischendurch wäre es natürlich auch nicht gegangen.

Für das, was das Duo Guildo Horn/Stefan Raab losgetreten hat – die absurd-schräge Performance – bekommen wir nun übrigens die geballte Quittung: Lordi schaffte es 2006 zwar noch, dem ganzen die Krone aufzusetzen, aber auch dieses Jahr versuchten es diverse Länder mit nicht weniger exzentrischen Beiträgen: Frankreich und Großbritannien versuchten es mehr mit Tanzen als mit Singen, die Ukraine mit ihrem Star und Kunstfigur Verka Serduchka lief außer Konkurrenz und die Schweden erinnerten in ihrem Styling sogar entfernt an Stockholm Tokio Hotel.

Die Ukraine überraschte dabei sogar mit deutschsprachigen Texten, die Letten mit italienischem Gesang, und dass Mr. Deutschland, Roger Cicero, uramerikanischen Swing ebenfalls auf Deutsch sang, kann man auch ruhig einmal hervorheben. Von der einfühlsamen Ballade über rockiges Herumgezappel bis zur fast schon gewohnt provozierenden, schrägen Absurdität wurde 2007 alles geboten, was sich der Zuschauer nur wünschen konnte.

Nun ja, fast. Gewünscht hätten sich sicherlich viele, dass „ihr Land“ auch dabeigewesen wäre. Italien macht freiwillig schon länger nicht mehr mit, aber unfreiwillig (da während der Qualifikationsrunde zuvor ausgeschieden) fehlten bei diesem Grand Prix unter anderem: Belgien, Dänemark, Island, Israel, Kroatien, die Niederlande, Norwegen, Österreich, Polen, Portugal, die Schweiz und Tschechien. Viele Länder, ohne die man den Grand Prix früher hätte absagen müssen, hätten sie nicht teilgenommen.

Kann man das noch eine „Eurovision“ nennen, wenn das „alte Europa“ fast komplett fehlt und Frankreich, Deutschland und Großbritannien nur deshalb antreten durften, weil sie das Spektakel de facto finanzieren? Stefan Raab hatte wohl recht, als er sich mit dem Desaster in der Türkei 2005 – sein Schützling Max Mutzke (Can’t wait until tonight, baby) erreichte „nur“ Platz 8 – aus der europäischen Grand-Prix-Welt verabschiedete und seinen eigenen Songwettbewerb etablierte – deutschlandintern, nur mit Teilnehmern aus den jeweiligen Bundesländern.

Flagge von FinnlandDer alte Charme des Grand Prix ist weg, genauso wie der glanzvolle Name. Der Song Contest ist im neuen Jahrtausend, im neuen Europa angekommen. Nur die Mechanismen aus den alten Zeiten des überschaubaren West-Europas wurden noch nicht daran angepasst. Man behilft sich mit unfairen Vorauswahlen und fast ebenso unfairen Telefonabstimmungen (zwei Testanrufe während der Abstimmungsperiode ergaben ein Dauerbesetztzeichen – kein Wunder, wenn alle Türken in Deutschland gerade gleichzeitig versuchen, für ihre Heimat am Bosporus abzustimmen…).

Die Organisation muss sich langsam etwas einfallen lassen, um dieses ehemalige Ereignis der Völkerverständigung nicht zu einer Farce verkommen zu lassen. Bislang hat man es nicht geschafft, sich ein Abstimmungsverfahren auszudenken, das gut singende Interpreten tatsächlich belohnt und unterstellte Ethnienklüngelei verhindert. Auch wenn es diese tatsächlich nicht gibt und auffällige Abstimmungskonzentrationen (Israel mit vielen russischen Einwanderern stimmt für Weißrussland, Russland und die Ukraine; die Ukraine stimmt für Weißrussland und Russland; Deutschland stimmt für die Türkei und der Balkan macht sowieso sein eigenes Ding) in Wirklichkeit auf einen übereinstimmenden Musikgeschmack zurückzuführen sind: für die scheinbar isoliert dastehenden Länder ergibt sich daraus ein Hass auf die Vetternwirtschaft unter den „Bruderstaaten“. Oder um es mit den Worten von Peter Urban (während der Stimmen-Auszählung) zu sagen:

    Deutschland jetzt auf dem 15. Platz… das ist schon gar nicht schlecht!

Wenn das nicht schlecht ist, was ist dann gut? Der Song Contest muss sich dringend etwas Neues ausdenken, sich verändern und dabei auf die speziellen europäischen Gegebenheiten Rücksicht nehmen. Man kann in einem derart kulturell vielfältigen Europa, in dem Flächenstaaten genauso ihren Platz haben wie kleinere Nationen nicht länger so tun, als wären sie alle einträchtig gleichberechtigte Sterne auf dem europäischen Banner, ohne Neid und Missgunst zu produzieren – das genaue Gegenteil der ursprünglichen Eurovisionsidee. Die lauten Buh-Rufe des gemischteuropäischen Publikums in Helsinki, als z.B. Zypern schon wieder den Griechen die volle Punktzahl gab, sprachen hier beispielhaft eine deutliche Sprache.

Was wäre eigentlich so unmachbar daran, die paar handvoll Vorentscheid-Ausscheider auch noch im richtigen Grand Prix unterzubringen, sich die Vorauswahl also zu sparen? Man müsste nur die langweiligen Eingangs- und Schlussmoderationen streichen, die Zwischenspielfilmchen kürzen (die statt etwas über die teilnehmenden Länder sowieso immer nur wieder über das Gastgeberland berichten), den Vertretern der Rundfunkanstalten bei der Punktevergabe verbieten, „great show, thank you“ zu sagen und eine halbe Stunde Sendezeit dazunehmen – und der Zuschauer könnte wirklich entscheiden, wer den überzeugendsten Künstler darstellt.

Die einfachste Lösung gegen das Neidproblem wäre, dass Abstimmungspunkte für direkte Nachbarländer (und aus Deutschland für die Türkei) nur noch zur Hälfte zählen würden. Das einfachste Mittel gegen Langeweile beim langwierigen Punkteauszählen wäre, dass nur noch die Länder abstimmen dürfen, die im vorausgegangenen Jahr keine Höchstpunktzahlen an Anrainerstaaten vergeben haben. Die Alternative sähe radikaler aus: Aufteilung des Contests in einen Nord-, Süd-, West- und Ost-Grand-Prix, quasi nach kulturellen Geschmäckern. Ob man dies jedoch noch guten Gewissens als Beitrag zu einem zusammenwachsenden Europa sehen könnte?

Wider Erwarten ist es übrigens 2007 dann doch Serbien geworden, das den Siegertitel und damit auch den Austragungsort 2008 für sich beansprucht – mit einem tollen Lied, wenig Krach und Trubel im Gegensatz zum „lauter, stärker, dröhnender, animalischer“ der letzten Jahre. Und mit einer auffälligerweise optisch eher unauffälligeren Sängerin: Marija Šerifović, der singenden Betriebswirtschaftlerin. Es sieht fast so aus, als hätte der klassische Chanson doch noch eine Chance. Beenden wir diese Revue daher an dieser Stelle; passenderweise nochmals mit einem Zitat von Peter Urban:

    Peter Urban… [irritierte Pause] …sagt Tschüss.

Bis nächstes Jahr – in Belgrad.
Artikelende

Meinungen zum Grand Prix …

Popkulturjunkie zeigt die Bestplazierten graphisch:
live: “eurovision song contest” 2007

Stefan Niggemeier hält dagegen:
Die Mär vom Ostblock beim Grand-Prix (2)

fanden Peter Urban klasse:
journalistin88, Siv’s Mehr zwischen den Zeilen

Zahlenspiele bei Sprblck:
http://sprblck.com/?p=393

Comic bei ahoi polloi:
http://ahoipolloi.blogger.de/stories/787560/

Weitere Vorschläge zur Chancenverbesserung:
news hq, K.O.W.-Reflexionen, Lupe, Polliiie

Stolz, nichts mitbekommen zu haben:
franzisskript

Bedauern:
Finger.Zeig.net, irden

Und wieso Israel, Marokko und der Irak auch zu Europa gehören, erklärt das DWDL-Magazin:
http://www.dwdl.de/article/news_10891,00.html

Mehr zum Thema Grand Prix auch im
Dossier „Eurovision“

Kommentare


  • […] nur Kalauer auf Altherrenwitzniveau (in Island seien sowieso alle miteinander verwandt). Konnte man im vergangenen Jahr noch die Unkonzentriertheit des Kommentierenden beanstanden, gab sich Urban dieses Mal jedoch […]

  • […] Vision ohne Euro: Der Eurovision Song Contest 2007 oder Peter Urban, äh, sagt Tschüss […]

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