Alles war diesmal anders. Das erste Mal kam der Eurovision Song Contest aus Moskau, das erste Mal seit Jahrzehnten wurden die Punkte nicht mehr allein von den Zuschauern, sondern zum Teil auch von „Fachjurys“ vergeben, zum ersten Mal fehlte Kommentator Peter Urban, zum ersten Mal kam die Deutschlandmoderation nicht mehr von Thomas Hermanns, das erste Mal konnte man dem deutschen Titel überhaupt nichts Deutsches abgewinnen und erstmalig war der Grand Prix so schlecht wie kaum je zuvor.

Die russische Hauptstadt konnte nichts für das Debakel (dass die Moskauer Behörden im Vorfeld der Sendung ausgerechnet eine Lesben/Schwulen-Demonstration auflösten, kann man der TV-Veranstaltung schwerlich anlasten) – die Gastgeber zogen alle showtechnischen Register und boten ein souveränes, mondänes und gelungenes Gerüst für den europäischen Sangeswettstreit, inklusive einer Live-Schaltung zur internationalen Raumstation ISS (wäre die MIR noch im All unterwegs, wäre das natürlich noch besser gewesen). Eine süße Idee war es, zwischen den einzelnen gesanglichen Beiträgen ins Lateinische transkribierte Wörter zu übersetzen – und damit quasi einen Mini-Sprachkurs in Russisch für die Zuschauer anzubieten. Das Unheil kam vonseiten der Interpreten. Dabei waren die deutschen Zuschauer gleich doppelt gestraft:

Urbane Leere

Denn der einzige Grund für Normalsterbliche, sich den Grand Prix der letzten Jahre anzutun, war der Live-Kommentar von Peter Urban. Urban stand aus gesundheitlichen Gründen (gute Besserung nach Hamburg!) dieses Jahr nicht zur Verfügung. Kein Grund war leider die Krankheitsvertretung, die der NDR schickte. Diese heißt Tim Frühling und war mal Nachrichtensprecher beim WDR und fast so ähnlich hörten sich dann auch dessen Direktkommentare vom Eurovision Song Contest aus Moskau an. Im Laufe des Abends zwar mit spürbarerer Begeisterung, versuchte Frühling sichtlich, die großen Fußstapfen Urbans zu füllen, indem er die typisch urbansche Intonation zu imitieren versuchte – was natürlich nicht funktionierte. Den beißenden, spottenden Humor Urbans kann man so leicht nicht adaptieren. Wie in einer Nachrichtensendung plätscherten die bieder vorgetragenen Hintergrundinfos dahin, ohne Spontaneität, ohne Witz und Humor. Wenigstens Tim Frühling hat es offensichtlich Spaß gemacht, das war zu bemerken. Bleibt zu hoffen, dass Peter Urban sich bis 2010 für Oslo wieder erholt hat.

Der NDR hat’s versaut.

Noch jemand fehlte: Der bekennende Grand-Prix-Fan Thomas Hermanns, der in den vergangenen Jahren im nationalen Rahmenprogramm zur Sendung zielsicher jeden noch so letzten Platz des deutschen Beitrags galgenhumorig übergrinste, hatte wohl diesmal verständlicherweise die Nase voll davon, schlechte Lieder gut finden zu müssen und machte Platz für Thomas Anders.

Fernsehbilder vom Grandprix

Das war die richtige Entscheidung, denn der deutsche Beitrag, ein vom Chanson alter Schule weit entfernter Krawall-Bumm-Bäng-Titel, brachte Deutschland auf den vorvorvorvorvorletzten Platz. Ein durchaus eingängiger Titel mit aufdringlichem Ohrwurmpotential, aber für einen Grand-Prix-Beitrag – na ja. Weder Stück- noch Bandnamen konnte man sich wirklich merken, wohingegen die durchaus bemerkbare Exklusivtänzerin Dita Von Teese ihren Sekundenauftritt genausogut für ein beliebig anderes Land hätte opfern können. Denn wo die Darbietung ihren Deutschlandbezug hatte, erschloss sich dem Zuschauer nicht recht. Zwar hat es beim Grand Prix durchaus Tradition, dass einzelne Länder immer wieder Künstler anderer Nationen ins Rennen schicken (z.B. die Schweiz oder Monaco) und auch Ralph Siegel komponiert gerne mal für andere Nationen, doch zumindest ist dann entweder der Künstler heimisch oder die Beitragssprache. Nichts davon war beim „deutschen“ Beitrag ersichtlich.

Keineswegs hilfreich dürfte es dabei gewesen sein, dass der diesjährige deutsche Beitrag nicht öffentlich gewählt, sondern im Geheimen schlicht bestimmt wurde. Wenigsten muss sich dadurch das Fernsehvolk nicht für das erneute Debakel verantwortlich fühlen, doch dem NDR dürfte es damit gelungen sein, das Interesse am Grand Prix in Deutschland noch weiter in die Bedeutungslosigkeit zu steuern.

Wer hätte gedacht, dass man Sternstunden deutscher Beiträge wie Texas Lightning, Max Mutzke und Guildo Horn einmal so vermissen könnte? Auch Ralph Siegel würde es vielleicht mal wieder schaffen, wenn er Deutsch singen ließe.

Die „Musik“

Musiknoten als EuropasterneAllerdings waren die Konkurrenzbeiträge 2009 durchweg ebenfalls kaum der Rede wert, die interessanten Lieder ließen sich an einer halben Hand abzählen. Dass sich der spätere Siegertitel (Norwegen) bei der abschließenden Punktevergabe so schnell wie noch nie in der Geschichte des Wettbewerbs an die Spitze setzen konnte, sagt viel über die Qualität der übrigen Darbietungen aus.

Im Gegensatz zu früheren Veranstaltungen, die eine ganze Reihe an Liedern präsentierten, die man sich im Nachhinein gerne noch einmal anhörte oder gar Welthits hervorbrachten, war der Eurovision Song Contest 2009 im Schnitt äußerst mau. Nicht nur Deutschland, auch die meisten anderen Interpreten verheimlichten ihren lokal-nationalen Bezug, es dominierte der globalisierte Einheitsquatsch, im besten Fall waren die Tanzeinlagen diverser Hupfdohlen (Rumänien gar samt Ringelpiez mit Anfassen) oder plakative Musicalkomponisten als Klavierbegleitung (England) noch ansehnlich. Das musikalische Schaufenster nach Europa wie in der guten alten Zeit – es war mit Eurotrash zugestellt.

Ein Länder-Gesangswettbewerb ist der Song Contest immer weniger, allein das den Grand Prix ausrichtende Land garantierte in den letzten Jahren einen lokalen Aspekt, den Rest machen die Interpreten unter sich aus – meist ganz ohne Regionalbezug. Das macht die Veranstaltung langatmig bis langweilig, es lässt sie zu einer verbildlichten, überlangen „Playlist“ verkommen.

Die neuen Abstimmungsregeln unter Beteiligung von „Fachjurys“ und komplizierte Vorausscheidungen tun ein Übriges. Es ist kaum noch nachvollziehbar, warum wer wieviele Punkte erhält. Der Tiefpunkt nicht nur für den deutschen Part des Grand Prix dürfte 2009 erreicht worden sein.
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siehe auch:

Der Eurovision Song Contest 2008 oder Herr Urban hat den einzig möglichen Witz geklaut


Vision ohne Euro: Der Eurovision Song Contest 2007 oder Peter Urban, äh, sagt Tschüss

Der alternative Live-Kommentar: Gehässiges bei Popkulturjunkie

Peter Urban fällt aus

Die Schaltung zur Raumstation war gar keine – sondern ein Einspielfilmchen

Mehr zum Thema Grand Prix auch im
Dossier „Eurovision“

Kommentare


  • eurovisions-treuer sagt:

    Die Kritik an Herrn Fröhlich ist ein wenig unfair. Zum einen kam Herr Urban die letzten Jahre auf dieser Seite auch nicht sonderlich gut weg, und nur weil es ein Neuer ist, soll er automatisch schlechter sein? Das erschließt sich mir nicht. Außerdem hat er seine Sache doch recht ordentlich gemacht. Richtig ist, im Laufe der Sendung wurde er lockerer und auch mutiger. Das einzige Problem von Herrn Fröhlich war, dass er den besten Beitrag (Estland! – natürlich nur meine subjektive Meinung) von vornherein als langweilig klassifiziert hat. Davon mal abgesehen, hat er diesen durchwachsenen aber qualitativ dennoch besseren Abend als 2008 humorvoll und informativ begleitet. Also wenn Herr Urban 2010 wieder fit ist, dann würde ich mir einen Doppelpack wünschen. Und bitte, bitte einen einigermaßen erträglichen deutschen Beitrag :-)

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