Am 29. Mai ab 21.00 Uhr findet der weltweit größte jährliche Musikwettbewerb wieder statt, der Grand Prix d’Eurovision de la Chanson, offiziell Eurovision Song Contest, kurz: der ESC.

Auf der Suche nach einem passablen Sänger für den Grand Prix haben sich Pro Sieben (Heimat des Mannes mit ESC- und Castingshowerfahrung und einem glücklichen musikalischen Händchen) und der NDR (traditioneller ARD-Grand-Prix-Verwalter) in diesem Jahr verbündet, um diesmal wieder die Zuschauer entscheiden zu lassen, wen man denn ins Ausland zum Vorsingen schickt. Herausgekommen ist unter Stefan Raabs Regie ein famoser Gegenentwurf zum Superstargesuche bei RTL – und ganz nebenbei hat man auch noch sie entdeckt: Lena Meyer-Landrut.

Aus dem Nichts zum Star in ein paar Wochen – das schafft man nur mit einer Casting-Show. Und wenn man z.B. Lena heißt. Diese junge Frau hat es geschafft und in den letzten Wochen mit ihrem mädchenhaften Charme die Herzen der Nation erobert.

Lena-tionell

Man fühlt sich an das Thomas-Godoj-Fieber vor 2 Jahren erinnert. Wie bei Godoj reden auf einmal wieder alle davon, wie „geflasht“ sie sind. Doch Meyer-Landrut als „weiblichen Godoj“ zu bezeichnen, würde die Sache verfehlen. Auch sie verzaubert ihre Zuhörer im Fluge, auch sie wirkt absolut authentisch und ist doch ganz anders. Allein durch diese spontane und gewitzte Natürlichkeit, die so frisch wirkt, dass man schon fast wieder glauben könnte. es wäre eine aufgesetzte Masche.

Musiknoten als EuropasterneDie verzauberten Fans luden die Sendungsausschnitte ihrer Auftritte bei Youtube schneller wieder hoch, als sie die Rechteinhaber löschen lassen konnten. Nach der Krönung zum „Star für Oslo“ kaufte Deutschland und darüberhinaus ihre Veröffentlichungen wie warme Semmeln. Dass es ursprünglich bei der ganzen Veranstaltung mal um den Grand Prix ging, ist schon fast nebensächlich.

Die Grand-Prix- und Fan-Gemeinde tobte zwar, dass es ausgerechnet das Lied „Satellite“ wurde, mit dem Lena nun in Oslo starten darf (es habe zuwenig Ohrwurmpotential und überhaupt gebe es bessere), inzwischen setzt aber auch sie nun alle Hoffnungen auf die Kombination Lena – Satellite.

Doch wie Meyer-Landrut das „love“ singt, geht ins Ohr. „Satellite“ ist spritzig, hat – das ist der Knackpunkt – nach mehrmaligem Hören durchaus auch Ohrwurmpotential, kommt für einen Grand-Prix-Titel jedoch eher unmelodiös herüber, ist zu rhythmisch, poppig, abgehackt. Es ist ein nettes Lied, aber nichts Herausragendes, eher schon der typische Eurotrash. Zu etwas Besonderem wird Satellite erst durch die Interpretation Lenas.

Doch was zählt schon die Musikauswahl beim ESC? Die Auftritte entscheiden über Erfolg oder Scheitern. Also muss es die Sängerin richten. Und das könnte diesmal tatsächlich funktionieren. Das Problem dabei: Um das Phänomen Lena zu beschreiben, muss man weit ausholen, die Beschreibung kommt nicht ohne das Image, das Drumherum aus. Ihre Art, Frechheit, Unbekümmertheit, Schlagfertigkeit, Spontaneität, vor allem Authentizität. Dass der deutsche Beitrag auf Englisch gesungen wird, ist nun wiederum nicht gerade authentisch, hat dem Gewinnertitel des letzten Jahres (Norweger mit weißrussischen Wurzeln singt englisch) allerdings auch nicht geschadet.

Ein bisschen Lena

Nicole-Vergleiche können Lena-Fans schon längst nicht mehr hören, doch es ist der auffälligste Punkt, an denen sich die Beobachter klammern können. Der bisher einzige deutsche Grand-Prix-Sieg vor einem Vierteljahrhundert wurde ersungen mit – Authentizität. Wer anders als Lena, quasi eine Verkörperung der Authentizität, sollte es daher schaffen können, den Grand Prix ein zweites Mal nach Deutschland zu holen?

Lena – ein Stern, der vorüberzieht
Eine Kritik von Jennifer Rößler (jr)

Sie ist jung, hübsch, sympathisch, hat Charme und ist die Hoffnung aller deutschen Grand-Prix-Fans für Oslo: Lena Meyer-Landrut. Mit ihrer Natürlichkeit und ihrem Lächeln hat sie die Herzen ihrer Fans im Sturm erobert. Aber kann sie die Hoffnungen wirklich erfüllen?

Schon jetzt wird sie von allen als die Siegerin gefeiert, hetzt von einem TV-Auftritt zum nächsten – aber wie lange wird sie das Unverbrauchte, das einen großen Teil ihres Charmes ausmacht, erhalten können? Hat sie, von Äußerlichkeiten abgesehen, wirklich mehr zu bieten? Um wirklich in Oslo gegen die Konkurrenz bestehen zu können, muss das Gesamtbild stimmen und das tut es leider nicht. Auftreten und Stimme passen nicht zueinander, bilden keine Harmonie. Ihre Stimme klingt zu hart, ihr fehlt es an Volumen für einen so peppigen Song. Man kann ihr den Titel nicht vorwerfen, da nicht sie ihn ausgewählt hat, sondern er bereits vorher feststand. Doch dieser Titel passt nicht zu ihr. Mit einer Ballade hätte sie mehr Erfolgsaussichten gehabt.

Bleibt nur, ihr zu wünschen, dass der Stern „Lena“ nicht sinkt, bevor er den Zenit erreicht hat, sie nicht verheizt wird, bevor sie sich richtig entfalten konnte und dass sie auf dem Boden bleibt, damit sie nicht zu tief fällt, wenn der Trubel um Oslo wieder vorbei ist, denn lange wird sie sich in den Charts nicht halten können.

Man muss jedoch befürchten, dass die Authentizität im Grand-Prix-Betrieb auf der Strecke bleibt. Denn beim Grand Prix gewinnt man nicht mit Authentizität. Bei 3-4 Minuten Gesang kann man sie kaum vermitteln. Selbst Max Mutzke hatte Probleme, das soulige Kleinbühnenflair in der ESC-Arena zu entfalten.

Man gewinnt mit Kitsch (Mädchen mit weißer Gitarre singt über Frieden, Junge mit Geige singt über Märchen, Monstermasken singen Hardrock), Sex (Interpret strippt oder zeigt viel Haut; Ausnahmen bestätigen die Regel, siehe dt. Beitrag 2009) oder guter Laune – wie Satellite.

Gute-Laune-Lieder gewannen in der jüngsten Vergangenheit kaum noch, daher wäre es eigentlich mal wieder an der Zeit. Die spannende Frage bleibt bis zum Schluss, ob es Lena gelingt, mit ihrer Art und nur einem Auftritt auch ganz Europa gefangenzunehmen.

Doch die Konkurrenz ist groß. Schweden, Irland, Portugal und Norwegen haben gefühlvolle Balladen im Angebot, Irland schickt dabei sogar Grand-Prix-Veteranin Niamh Kavanagh ins Rennen, die 1993 den Contest mit dem Hit „In Your Eyes“ gewann. Armenien bietet tolle Folklore auf, Zypern einen sympathischen Popsong, Russland mystisch angehauchte Klänge. Litauen entsendet Aisha mit dem absoluten Ohrwurm „What for – Only Mr. God Knows Why“.

Lena wird mit Sicherheit kein Debakel erleben wie es die deutschen Beiträge der letzten Jahre waren, doch einen ersten Platz kann man im Rahmen des Grand Prix realistischerweise nicht erwarten. Verdient hätte sie ihn. Eines dürfte jedoch mit Sicherheit feststehen: wenn es mit Lena nicht für einen ersten Platz reicht, dann wird es damit nie wieder etwas.
Artikelende

Die große Nachbetrachtung zum ESC gibt’s wie immer kurz nach dem Grand Prix hier im Knetfeder-Magazin.

siehe auch:

Stefan Niggemeier

Mehr zum Thema Grand Prix auch im
Dossier „Eurovision“

Kommentare


  • […] Das Phänomen Lena. Eine kleine Grand-Prix-Vorschau […]

  • Steffen sagt:

    Ich muss gestehen, dass ich mich mit Lena noch nicht mehr als nötig befasst habe. „satellite“ ist ein Titel, der rein musikalisch gesehen auf mich eher abstoßend wirkt und ich sehr hoffe, dass sie nicht höher als nötig damit platziert wird. :) Mag sein, dass sie auch schönere Titel singt – da werde ich wohl mal nachforschen müssen. Aber ich prophezeihe ihr, dass sie in ein paar Jahren von der Bildfläche nahezu verschwunden ist und sich zwischen all den ganzen Casting-Stars der vergangenen Zeit kein bisschen mehr hervorhebt. (Wer war eigentlich Godoj??? Der Typ ist an mir im Gegensatz zu Lena nämlich völlig vorbeigegangen.) :) Es gab doch schon so viele Sänger/innen, von denen gesagt wurde, an sie würde man sich auch noch in Jahrzehnten erinnern. Und was ist mit all den „Superstars“ der letzten paar Jahre? Genau, sie singen – wenn überhaupt – nur noch zu Baumarkteröffnungen oder schreiben Sommerhits für den Ballermann (Siehe Marc Metlock). tut mir leid, aber ich bin mittlerweile sehr, sehr skeptisch geworden. …Und vermutlich irgendwo in meiner musikalischen Jugend hängen geblieben. Da gabs zwar größtenteils auch nur Trash, aber damals wie heute fand ich das noch cool… hach, waren das Zeiten! :D

  • Steffen sagt:

    P.S.: Damit nicht der Eindruck entsteht, ich würde aktuelle Mainstream-Musik total ablehnen: Hätte man Unheilig nach Oslo geschickt, würde ich alle Hoffnungen in Deutschland setzen. „Geboren um zu leben“ ist zwar imho auch nicht unbedingt der schönste Titel aus dem Album „Freiheit“, eignet sich aber als ESC-Beitrag weitaus besser. Musikalisch gesehen wie gesagt…

  • Jennifer Rößler (jr) sagt:

    Nachdem der ganze Hype um Lena völlig an mir vorübergegangen ist, habe ich mir nun aus Neugier mal ein youtube-Video angesehen. Sie kommt sympathisch rüber, ist hübsch und natürlich sehr jung.. aber: die Stimme ist nicht so mein Fall und den Titel mag ich auch nicht. Zum Songtext kann ich nichts sagen, weil ich praktisch kein Englisch verstehe. Klingt für mich nicht wirkilich so, als könnte er aus der Masse herausragen und darum glaube ich auch nicht daran, dass sie mit dem Titel sehr weit kommen wird.

  • > Aber ich prophezeihe ihr, dass sie in ein paar Jahren von der Bildfläche nahezu verschwunden ist

    Dass sich Meyer-Landrut dauerhaft im Musikgeschäft betätigt, mag man sich in der Tat gar nicht vorstellen. Es würde einerseits nicht zu ihrem Image als Anti-Superstar passen, andererseits wirkt sie dafür zumindest derzeit schlicht zu unprofessionell. Vielleicht erfüllt sie sich ja nach Oslo den Traum der Ausbildung zur Tierarzthelferin.

  • FrankS sagt:

    > Denn beim Grand Prix gewinnt man nicht mit
    > Authentizität. Bei 3-4 Minuten Gesang kann man sie
    > kaum vermitteln.

    Und doch ist es ihr gelungen und sie hat damit den ESC gewonnen. Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, dann ist Lena der Beweis, dass Authentizität und Kongruenz der Schlüssel zu überzeugendem Erfolg sind.

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