Zwei Dinge hat die Neuigkeit der vergangenen Tage, dass das Mailprogramm Thunderbird nicht mehr weiterentwickelt wird, noch einmal aufgezeigt. Einerseits, dass Mozilla den Fokus maßgeblich auf die Privatanwender legt. Andererseits, dass sich Mozilla offenbar von handfesten kommerziellen Erwägungen leiten lässt und die Gemeinnützigkeit dabei in den Hintergrund tritt.
Die Meldungen der letzten Tage, dass Thunderbird „aufgegeben wird“, lässt viele Thunderbird-Nutzer befürchten, ihr Lieblingsmailer wäre am Ende und sie müssten sich nun Alternativen suchen. Die Entwicklung wird allerdings nicht vollständig eingestellt, sondern in absehbarer Zeit nur die Weiterentwicklung. Die Arbeiten an Thunderbird werden sich damit auf den Erhalt des status quo beschränken.
Ein zu Ende entwickeltes Programm?
Der Nutzerschaft wird das als faktische Notwendigkeit verkauft, da Thunderbird ein ausgereiftes Programm wäre und es nicht sinnvoll erscheine, noch weiterhin Geld und Arbeitskraft zu investieren, um auch künftig für Innovationen bei Thunderbird zu sorgen. Doch entspricht das der Wirklichkeit? Kann man ein Mailprogramm – und speziell Thunderbird – nicht mehr verbessern? Natürlich ändert sich an der E-Mail an sich grundlegend nichts, E-Mail ist seit Jahrzehnten E-Mail, im Gegensatz zu Web und HTML, die sich fortlaufend weiterentwickeln. Ein Mailprogramm muss also nicht das Entwicklungstempo mitmachen, das für einen Browser notwendig ist, wenn dieser auf der Höhe der Zeit bleiben will. Umso unverständlicher ist daher, dass man Thunderbird bisher fast ausnahmslos parallel zum Firefox veröffentlichte und zuletzt auch den neuen, 6-wöchigen Releasezyklus auf Thunderbird ausgedehnt hat.
… und nun dürfen Sie auch noch selber programmieren – Thunderbird-Begrüßungsbildschirm
Aber das Drumherum und der Umgang mit E-Mail ändert sich durchaus. Wäre Thunderbird nicht jetzt, sondern bereits vor ein paar Jahren eingefroren worden, dann hätte das Programm nun z.B. keinen integrierten RSS-Reader oder eine Drei-Spalten-Ansicht. Die Gewohnheiten, wie E-Mail genutzt wird, ändern sich im Gegensatz zum E-Mail-Protokoll tatsächlich – was man z.B. auch an der jüngst integrierten „Filelink“-Funktion sieht, die das „Versenden“ sehr großer Dateianhänge ermöglicht. Wird ein Programm nicht mehr aktiv weiterentwickelt, erreicht es schnell einen Status, in dem es als veraltet gilt und auch tatsächlich von der Konkurrenz abgehängt wird. Einen Metro-Thunderbird für Windows wird es also genausowenig geben wie z.B. ein besser in KDE integriertes oder ein auf GTK3 portiertes Thunderbird für die Linux-Nutzer.
Die tatsächlichen Hintergründe
Die wahren Ursachen, weswegen Mozilla Thunderbird aufs Abstellgleis schiebt, dürften woanders liegen, die Wahrheit ist profaner: Auf der einen Seite hat Mozilla schlicht nicht genügend Ressourcen, um neben Firefox, neuerdings auch unter dem Namen „Firefox OS“ in der Form eines Betriebssystems, auch noch die aktive Entwicklung eines ebenfalls sehr umfangreichen Programmes wie Thunderbird in gewohntem Tempo zu stemmen. Zwar verdient Mozilla Millionen, aber es ist dennoch im Vergleich zu anderen IT-Firmen ein sehr kleines Unternehmen.
Auf der anderen Seite wird das Geld eben mit jenem Firefox verdient, nicht mit Thunderbird. Während Firefox über ein Suchfeld für Suchmaschinen verfügt, über das in Folge von Kooperationen mit Suchmaschinen- und Shopbetreibern – nicht zu knapp – Einnahmen generiert werden, fehlt etwas Vergleichbares in Thunderbird – ein Mailprogramm benötigt keine Websuche. Bis vor kurzem war Thunderbird ein reines Zuschussgeschäft; es gab kein Refinanzierungsmodell. Im Gegenteil, jeder konnte den Quelltext des Programmes einfach nutzen und unter anderem Namen ein eigenes Produkt veröffentlichen, ohne dass Mozilla davon profitierte. Erst seit Kurzem versucht Mozilla, über Kooperationen auch bei Thunderbird Einnahmen zu erzielen: so wurde in Thunderbird 13 die Möglichkeit implementiert, über Drittanbieter E-Mail-Adressen zu erwerben. Außerdem wird mit Webspeicherdiensten zusammengearbeitet.
Dialog zum direkten Erwerb von Mailadressen in Thunderbird
Es blieb Mozilla also nur die Möglichkeit, Thunderbird querzusubventionieren und die Kosten für die Entwicklung möglichst gering zu halten. Dies wäre über die Gewinnung „freiwilliger“ Programmierer möglich gewesen. Bei Mozilla sagt man deutlich, dass es in den letzten Jahren nicht gelungen ist, genügend Entwickler aus der Thunderbird-Gemeinschaft zu gewinnen. Auf Deutsch gesagt heißt das, dass nicht genügend Enthusiasten bereit waren, kostenlos für eine fremde Firma zu arbeiten. Dass dies bedauert wird, ist verständlich, aber es wirkt auf eine Weise auch unverschämt.
Die ehrenamtliche Struktur bei Firefox entstand vor allem vor dem Hintergrund des Bedürfnisses der Netzgemeinde, der damaligen Dominanz des Internet Explorers etwas entgegensetzen zu müssen, welche kaum eine Weiterentwicklung des Webs zuließ. Mozilla und Firefox schienen hier der einzige Ausweg zu sein – was sich dann auch als zutreffend herausstellte. Diese David-gegen-Goliath-Attitüde lockte viele Helfer und Entwickler an, was Firefox erfolgreich werden ließ und letztlich Microsoft derart in Zugzwang brachte, dass die Entwicklung des Internet Explorers nach standardkonformen Vorgaben vorangetrieben wurde und dieser somit heute wieder als zufriedenstellender Browser bezeichnet werden kann. Die heutige Browserlandschaft ist keine Monokultur mehr. Doch für Thunderbird gelten andere Maßstäbe. Thunderbird ist eine Annehmlichkeit, aber keine Notwendigkeit in der Internetwelt. Die Hoffnung, dass die „Community es schon richten werde“, dass Freiwillige in Zukunft derart motiviert sein werden, die Fortentwicklung sicherzustellen, das darf bezweifelt werden. Zwar gibt es zahlreiche Beispiele, dass auch große Projekte von nichtangestellten Entwicklern übernommen werden können, doch dies funktioniert in der Regel nicht ohne die Unterstützung von Festangestellten. Doch genau diese will Mozilla nun eben einsparen.
Stiefkind Thunderbird
Thunderbird war schon immer eher ein Begleitprojekt denn ein eigenständiges Programm. Es entstand, als Mozilla die ehemalige Mozilla-Suite (heute in Form des Programmes „Seamonkey“ wiederbelebt) aufgab, um die Entwicklung des schlankeren Browsers Firefox zu forcieren. Die Mozilla-Suite bestand hauptsächlich aus Browser und E-Mail-Programm, dies wurde nun praktisch aufgeteilt: eben in Firefox und Thunderbird. Weitere Bestandteile wie etwa der „Composer“, ein Programm zur Erstellung oder Bearbeitung von Webseiten, wurden komplett fallengelassen. Das integrierte Chatprogramm „Chatzilla“ wurde zur Erweiterung für Firefox degradiert. Während zunächst beide Projekte stark vorangetrieben wurden, wurde Firefox im Laufe der Jahre immer populärer, während Thunderbird nicht denselben Erfolg vorweisen konnte. Thunderbird wurde zum Experimentierfeld: zunächst wurde die Thunderbird-Sparte 2008 in eine eigene Tochterfirma, „Mozilla Messaging“, überführt, um sie 2011 wieder ins Hauptunternehmen zu reintegrieren – um nun demnächst die Fortentwicklung ganz ruhen zu lassen.
Ist das klassische Mailprogramm ein Auslaufmodell?
Die Prioritäten haben sich sichtlich verschoben. Während jeder Internetnutzer auf einen Browser angewiesen ist, gilt dies nicht mehr für ein Mailprogramm, die Gewohnheiten und Anforderungen haben sich gewandelt. Während das Schreiben von E-Mails in einem extra dafür geschaffenen Programm auch für Privatleute vor einigen Jahren noch eine Selbstverständlichkeit war und Webmailer ohne DSL-Anschluss gar nicht praktikabel waren, so sieht es heute etwas anders aus. Vielen Anwendern reicht eine E-Mail-Oberfläche im Browser, zumal Kommunikation zu Zeiten von sozialen Netzwerken und Foren nicht mehr in dem Maße über E-Mails oder gar Newsgruppen läuft, wie es früher der Fall war. E-Mail ist nur noch ein Modell unter vielen zur Mitteilung von Informationen. Zwar kommt man nach wie vor nicht an ihr vorbei, sie ist fester Bestandteil des Lebens im Internet, doch ihre Bedeutung hat nachgelassen – derart nachgelassen, dass ein E-Mail-Programm für manchen Nutzer nicht mehr zur Grundausstattung gehört. Im geschäftlichen und ambitionierten Umfeld zählen Mailprogramme zwar immer noch zu den primären Werkzeugen, aber auch hier werden sie bisweilen durch browserbasierte Lösungen ersetzt.
Fehlentscheidungen?
An diesem Punkt rächt es sich, dass der Fokus von Mozilla stets auf dem Privatanwender lag. Mit den Programmen aus der Mozilla-Familie bestand ein riesiges Potential, doch mit der Konzentrierung auf nur ein einziges Produkt – den Browser –, unter Vernachlässigung des unternehmerischen Umfeldes, ist man mittlerweile in einer Sackgasse angekommen. Konkurrenten wie Microsoft mit dem Internet Explorer oder Google mit Chrome nehmen dem Firefox wieder gehörig Marktanteile ab, Mozilla verliert seine Führungsrolle im Internet. Die Nutzer wollen immer noch einen schnellen, schlanken Browser, doch das ist Firefox schon längst nicht mehr und war es auch noch nie. Schlank war lediglich die sichtbare Oberfläche (im direkten Vergleich zur mit Funktionen überladenen Mozilla-Suite), die Gecko-Engine hingegen, wie auch das XUL-Interface, war stets schwergewichtig und träge.
Die Konzentration auf Firefox war die beste Idee, die man bei Mozilla haben konnte, sie hat Mozilla überhaupt erst zu dem gemacht, was es heute ist. Doch seitdem ist der Eindruck entstanden, dass man sich bei Mozilla nur noch verzettelt. Erst kamen die Innovationen zu langsam, inzwischen kommen sie – bei Firefox – derart schnell, dass mancher Anwender genervt zur Langzeitversion greift – oder Aktualisierungen auslässt, weil er nichts von der Langzeitversion weiß.
Im gleichen Zuge gibt Mozilla ausgerechnet die Thunderbird-Weiterentwicklung auf. Dabei gibt es gute Browser mittlerweile wieder in der Überzahl, doch gute Mailprogramme sind rar. Dabei verfügt Mozilla mit Thunderbird sogar über ein Alleinstellungsmerkmal, denn es gibt schlicht kein anderes derart funktionales Mailprogramm samt News- und RSS-Reader, das plattformübergreifend auf Windows, Mac und Linux gleichermaßen läuft. Mozilla hat hier einen Schatz, mit dem es offenbar derzeit nichts recht anzufangen weiß.
Thunderbird hätte zum ernsthaften Outlook-Konkurrenten werden können, wenn man sich beizeiten um eine Integration eines vernünftigen Kalenders bemüht hätte. Diese Chance hat man jahrelang vertan, indem man als Zielgruppe vorrangig den Privatanwender im Blick hatte und eine Kalenderfunktion nur optional bereitstellte. Infolgedessen muss man sich eigentlich nicht wundern, weshalb Thunderbird nicht richtig Fuß fassen konnte.
Ausblick
Mancher dürfte sogar froh sein, dass es bei Thunderbird nun, optimistisch ausgedrückt, etwas gemächlicher zugehen dürfte, machte das Programm zuletzt doch eher den Eindruck, „überentwickelt“ zu werden – wer braucht schon „Tabs“ in einem Mailprogramm? Letztere zeigten wiederum nur, dass Thunderbird als Anhängsel des Browsers galt, dessen visuelles wie technisches Design es zu kopieren galt.
Momentan ist noch alles in bester Ordnung, Thunderbird ist ein zuverlässiges, stabiles Programm – zwar mit ein paar Eigenheiten, an die man sich als Nutzer jedoch gewöhnen kann oder sie sogar schätzt. Es besteht also kein Grund zur Panik, wenn man sich selbst zu den Thunderbird-Nutzern zählt. Sicherungs- und Stabilitätsaktualisierungen wird es auch weiterhin geben und das Programm bleibt unter der Aufsicht von Mozilla. In Zukunft wird das Programm jedoch zunehmend veralten – und in ein paar weiteren Jahren wird man sich dann vielleicht die Frage stellen, ob man es nicht doch vollständig aufgibt. Eine faktische Einstellung, da Nicht-Weiterentwicklung, schafft jedenfalls kein Vertrauen bei den Anwendern und noch weniger Vertrauen bei Firmen.
Quellen und Weiterführendes
Mozillas Ankündigung: Thunderbird genießt keine Priorität mehr
Die Thunderbird-Community trägt Trauerflor
Eine weniger schwarzsehende Meinung
Danke für diesen tollen Artikel. Super Arbeit!