Nach dem Überraschungserfolg der Piraten in Berlin setzte ein regelrechter Piraten-Hype ein, dem weitere Erfolge im Saarland, in Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein folgten. Nach dem Einzug ins Berliner Abgeordnetenhaus waren die Piraten der Liebling der Medien. Sie waren angetreten, um alles anders zu machen, einen neuen Politikstil in Deutschland zu etablieren. Tatsächlich überraschten die Piraten dann oft mit einem ganz eigenen Stil.

Wahl 2013Seit der Einbindung in den parlamentarischen Betrieb sind die Piraten in der Realität angekommen – mit all den Facetten, die man auch von den „Etablierten“ kennt. Vor allem in Berlin standen und stehen die Piraten unter verstärkter Beobachtung der Medien. Und die Piraten boten eine Menge Berichtenswertes. Dabei hat sich vor allem gezeigt, dass hoher Anspruch und die Wirklichkeit des alltäglichen Politikbetriebs nicht einfach zu vereinen sind. Seit ihrem Wirken auf landespolitischer Ebene jagte ein kleinerer Skandal den nächsten – die Piraten wirkten trotz zunehmender Professionalität zunehmend unprofessionell, was verschiedenen Faktoren geschuldet war. Der vorläufige Tiefpunkt war zur Landtagswahl in Niedersachsen erreicht, als die Piraten den Einzug ins Hannoversche Landesparlament deutlich verfehlten.

Plakatausschnitt: Piraten wählen

Eine Chronik der allgemeinen Widrigkeiten, der größeren Fettnäpfchen und kleinen Skandale, mit denen sich die Piratenpartei seitdem konfrontiert sah.



2011


Zimmersuche

Kein guter Start im parlamentarischen Betrieb im November 2011: Die Piraten benötigen nach dem Erfolg in Berlin ein 8000 Euro teures Mediatoren-Team, um sich darauf zu einigen, wer welchen Raum im Abgeordnetenhaus erhält.


Vetternwirtschaft

Fraktionsmitglied Susanne Graf beschäftigt ihren Lebensgefährten als persönlichen Assistenten. Was formaljuristisch korrekt ist, hat dennoch ein Geschmäckle und wirkt für die junge Fraktion einer Partei, die angetreten war, um den bisherigen Politikstil zu verändern, wie eine sofortige „Es-sind-auch-nur-Politiker-wie-alle-anderen“-Entzauberung.


Sexismusdebatte

Die Piraten, die sich programmatisch als „post gender“ sehen, scheitern mit dieser Attitüde an der Wirklichkeit. Die meisten Posten sind mit Männern besetzt, die Sprache der Piraten-Verlautbarungen ist eine männlich dominierte. Statt die Ungleichbehandlung von Frauen und Männern und bestehende Probleme zu thematisieren, werden sie bei den Piraten ausgeblendet. Als eine Piratin eine Mailingliste nur für Frauen initiiert, eskaliert der Konflikt. Die Piraten erscheinen in der Folge nicht mehr nur als Männerverein, sondern nun auch noch als Machos.


Kinderpornographie

Links im Zusammenhang mit Kinderpornographie tauchen auf dem von der Piratenpartei zur Verfügung gestellten „Piratenpad“ auf, einer offenen Plattform zur gemeinsamen textbasierten Zusammenarbeit. Die darauffolgende Berichterstattung in den Medien wirkt, als würde das vorgelebte Prinzip der Nicht-Überwachung und Freiheit im Netz noch nicht einmal bei den Piraten selbst funktionieren. Die Piraten schalten den Dienst vorübergehend ab.


Esoterische Geschäftsführung

Im Dezember 2011 wird bekannt, dass die Fraktionsgeschäftsführerin der Berliner Piraten, vorsichtig ausgedrückt, mit fragwürdiger esoterischer Lebenshilfe Geld verdient. Die Berliner Piraten sehen darin kein Problem, bewerten es als Privatangelegenheit ihrer Geschäftsführerin und halten an ihr fest, trotz heftiger Kritik selbst aus den eigenen Reihen. Die damalige Stellungnahme ist nicht mehr öffentlich verfügbar.


Erpressung

Ebenfalls im Dezember beschäftigt eine Erpressungsaffäre die Piratenpartei. Ein minderjähriger Pirat soll andere Parteimitglieder mit Sexvideos und entwendeten Privatbildern erpresst haben.


Laxer Datenschutz

Im November 2011 kommt es zu einer Datenschutzpanne: Eine E-Mail-Antwort auf die Bewerbung für eine Stelle bei den Berliner Piraten geht an alle Bewerber gleichzeitig – für alle Empfänger sind die jeweils anderen Adressaten sichtbar. Die Häme ist groß, dass ausgerechnet die „Internetpartei“ nicht mit dem BCC-Feld des Mailprogrammes klarkommt.

Wahlplakat Gerwald Claus-Brunner


Pietätlosigkeit

Während einer Schweigeminute für zwei verstorbene Abgeordnete im Berliner Parlament behalten zwei Piraten demonstrativ ihre Kopfbedeckungen auf. Für das Tragen seines Palästinensertuches und dessen israelkritischer Bedeutung war Pirat Gerwald Claus-Brunner zuvor von Charlotte Knobloch kritisiert worden.



2012


Schlammschlacht

Bundesgeschäftsführung und Berliner Fraktionsmitglieder kritisieren sich im März 2012 gegenseitig in der Öffentlichkeit. Der damalige Bundesgeschäftsführer Nerz desavouiert die Berliner Fraktion durch die Forderung nach Einhaltung „elementarer Höflichkeitsregeln“.


Mangelndes Gespür

Im April 2012 fallen der damalige Landeschef der Berliner Piraten, Hartmut Semken, sowie Fraktionsgeschäftsführer Martin Delius mit unglücklichen Aussagen auf. Semken relativiert rechte Tendenzen innerhalb der Partei, Delius zieht einen direkten Vergleich der Piratenpartei mit der NSDAP. Im Mai 2012 äußert sich Semken derart, dass es wie eine Sympathisierung mit anarchistischen Gesellschaftssystemen wirkt.


Überzogene Reaktionen

Im Mai droht das Berliner Fraktionsmitglied Claus-Brunner dem Absender eines Einladungsschreibens mit rechtlichen Schritten.


Schon wieder Sexismus

Ebenfalls im Mai schreibt wiederum der Berliner Pirat Claus-Brunner in einem Twitterbeitrag in Bezug auf Frauenquoten von „Tittenbonus“, anschließend löscht er kritische Twitter-Reaktionen aus seinem Profil.


Staatlich unterstütztes Führungspersonal

Im Mai wird bekannt, dass der Bundesgeschäftsführer der Piraten, Johannes Ponader, zeitweilig Sozialleistungen bezieht, um seinen Lebensunterhalt zu sichern. In der Folge nahm der Bundesgeschäftsführer der Arbeitsagentur persönlich Kontakt mit der Parteispitze auf.

Piratenplakat zum bedingungslosen Grundeinkommen
Eigennützigkeit

Im August 2012 prescht der damalige Bundesgeschäftsführer Ponader vor und will eine Art bedingungsloses Grundeinkommen – erstmal nur für sich selbst. Er bittet die Piraten um „Spenden“, um finanziell unabhängig zu werden.


Förderung der Atomenergie

Eine offenbar von Lobbyisten beeinflusste Gruppierung innerhalb der Piratenpartei, „Nuklearia“, veröffentlicht ein Pamphlet, das gegen den Atomausstieg argumentiert und den Eindruck erweckt, ihre Forderungen stünden im Einklang mit den Forderungen der Piratenpartei.


Doppelmoral beim Urheberrecht

Ein von einer Beisitzerin im Bundesvorstand der Piraten geschriebenes Buch wird im Internet im Sinne der Progammatik der Piratenpolitik bewusst zugänglich gemacht – und von ihrem Verlag gelöscht, die wiederholte illegale Verbreitung mit urheberrechtlichen Mitteln sanktioniert. Der Spott ist groß, dass Führungspersonal der Piraten einen derartig doppelmoralischen Spagat zwischen Anspruch und Wirklichkeit hinbekommt, nach dem Motto „alles kostenlos für alle, außer ich verdiene daran“.


Drogenbesitz

Im Oktober 2012 wird der Cannabis-Besitz des stellvertretenden Bundesvorsitzenden der Piratenpartei bekannt.


Geschichtsklitterung

Im November findet es der nordrhein-westfälische Landtagsabgeordnete Dietmar Schulz „grotesk“, über Holocaustopfer zu trauern, wenn der jüdische Staat aktuell im Gazastreifen interveniere – und sieht darin auf Nachfrage zunächst kein Problem. Seine spätere Entschuldigung erntet erneute Kritik.


NPD-Unterstützung

Die schleswig-holsteinischen Piraten machen in einer Pressemitteilung deutlich, dass sie den Kampf der NPD gegen die 5-Prozent-Hürde unterstützen – und brechen damit das Tabu, rechtsextremen Parteien keine Fläche zu bieten.


2013


Medienkompetenz

Christopher Lauer, einer der bekanntesten Piraten, gibt im Februar 2013 öffentlichkeitswirksam seinen Abschied von Twitter bekannt – mit Argumenten, die von einem internetskeptischen Politiker nicht besser hätten formuliert werden können.


Kindergarten

Ebenfalls im Februar setzt Lauer dem Bundesgeschäftsführer Ponader per SMS ein Ultimatum zum Rücktritt, andernfalls „würde es knallen“. Ponader leitet die SMS an die Presse weiter.


Spaßpartei

Im März 2013 stellen Berliner Piraten eine Kleine Anfrage an das Abgeordnetenhaus, ob Berlin für eine Zombie-Invasion ausreichend vorbereitet sei.


Taten statt Worte

Wiederum im März erwecken die Piraten im Berliner Parlament den Eindruck, als würden sie sich gegenseitig verprügeln wollen.


Umgangston

Im April 2013 gibt der Pirat, der im Vormonat bereits handgreiflich zu werden wirkte, seinen Ausschussvorsitz auf, nachdem Kritik an seinen Umgangsformen („Ex-Fickse“) lauter wurde.


Rücktritt des Bundesgeschäftsführers

Im Mai tritt Johannes Ponader nach nicht verstummender Kritik vom Amt des Bundesgeschäftsführers zurück. Ponader, der für sein Auftreten in der Öffentlichkeit kritisiert wurde, dem man Beratungsresistenz, Alleingänge und Egotrips vorwarf, zieht die Konsequenzen aus dem wegfallenden Rückhalt aus den Reihen der Piraten. Für die Piratenpartei erscheint der Wechsel ein halbes Jahr vor der Bundestagswahl riskant.


Mehrere Hochzeiten

Während der Bewerbungsrede zur Wahl des neuen Bundesgeschäftsführers der Piratenpartei gesteht Christian Jacken, dass er auch in die AfD eingetreten sei. Doppelmitgliedschaften sind bei den Piraten nicht verboten, die Bewerbungsrede offenbart jedoch die Absurdität dieser Regelung in letzter Konsequenz. Viele Piraten reagieren mit beleidigenden Zwischenrufen und verlassen demonstrativ den Saal.

Nochmal Vetternwirtschaft

Im Mai 2013 streiten sich die Berliner Piraten öffentlich um Vorwürfe zur Vetternwirtschaft. Diesmal ist es Christopher Lauer, der die Beschäftigung der Mutter seiner Partnerin als Referentin von Susanne Graf an die Öffentlichkeit trägt, um Gerüchten zuvorzukommen. Graf fühlt sich übergangen und fordert öffentlich eine Entschuldigung von Lauer.


Getarnte Wahlwerbung

Im August initiieren die Piraten in Hessen als Alternative zum dort fehlenden Wahl-O-Maten den „Pirat-O-Mat“. Dass es merkwürdig wirkt, wenn ein vorgeblich unabhängiges Instrument zur Wahlentscheidungshilfe den Namen einer Partei trägt, fällt den Verantwortlichen spät auf. Das Projekt wird gestoppt, allerdings nicht wegen der Namensgebung, sondern weil auch rechte Parteien beteiligt werden möchten, was die Piratenbasis wiederum nicht mitträgt.



Wahlchancen

Für die Bundestagswahl 2013 wird es eng für die Piraten – sehr eng. Die Umfragen sehen sie zwischen 3 und 4 Prozent, stets unterhalb der 5-Prozent-Hürde. Gerade in Berlin haben die Piraten in den letzten Jahren kein gutes Bild abgegeben, die Fraktion wirkt heillos zerstritten. Die „Generalprobe“ für die Bundestagswahl, die Landtagswahl in Niedersachsen, ist misslungen. Protestwähler dürften sich eher der AfD zuwenden als der orangenen Partei.

Der Hype um die Piraten scheint ausgerechnet auf dem Höhepunkt der NSA-Affäre abgeflacht zu sein. Den Markenkern als Bürgerrechtspartei herauszustellen ist den Piraten im aktuellen Wahlkampf nicht recht gelungen, trotz vieler Steilvorlagen der anderen Parteien. Gerade jetzt, wo ihre Kernkompetenzen, Datenschutz, Netzpolitik und Bürgerrechte, am meisten berührt werden, scheint eine Übersättigung eingetreten zu sein. Die Piraten versuchen mit anderen Themen zu punkten, wie Grundeinkommen, Finanzpolitik oder etwa Adoptionsrecht für gleichgeschlechtliche Paare. Hier tritt das Dilemma zu Tage, mit dem die Piraten von Beginn an zu kämpfen hatten – dem Verdacht, eine Ein-Themen-Partei zu sein. Hätten die Piraten stärker auf die Netzpolitik fokussiert, wäre wiederum das Bild der Internetpartei zementiert worden. Stattdessen werden Utopien oder Allgemeinplätze plakatiert.

Dabei hätte es für die Piraten keine bessere Wahlkampfhilfe geben können, keine bessere Bestätigung, dass es eine Piratenpartei im Bundestag braucht. Die NSA-Affäre und Edward Snwoden war das Beste, was den Piraten passieren konnte. Dass eine umfassende, staatlich initiierte Bespitzelung durch fremde Mächte im Netz Realität ist, dass Präsidentenmaschinen souveräner Staaten in Europa in vorauseilendem Gehorsam für die Amerikaner zur Landung genötigt und durchsucht werden, dass Whistleblower in Russland Asyl suchen und westliche Zeitungen in demokratischen Ländern von Agenten gezwungen werden, Beweismaterial zu zerstören – das alles erscheint wie ein Stück Science-Fiction, die nun wahr geworden ist und niemand zuvor wirklich für möglich gehalten hätte.

Eine Bundeskanzlerin, für die im Zuge dessen das Internet im Jahre 2013 noch immer „Neuland“ ist, toppt sogar noch die Unwissenheit einer Bundesjustizministerin Zypries, die im Jahre 2007 mit dem Wort Browser nichts anzufangen wusste. Doch die Netzgemeinde scheint solche Auswüchse nur zu persiflieren und sich darüber lustig zu machen, statt deswegen Piraten zu wählen.

Dass ausgerechnet die kleinen Piraten etwas gegen die mächtigen US- und sonstigen Geheimdienste ausrichten könnten, glaubt ohnehin niemand. Dazu kommt, dass das Thema Datenschutz nicht an erster Stelle im Leben der Menschen steht. Zwar hat der Komplex um Edward Snowden und die Erkenntnis über das flächendeckende Abhören der Kommunikation durch ausländische Nachrichtendienste die Menschen verunsichert – aber im Zweifel verursacht es mehr Wirbel, wenn die Grünen auf einen vegetarischen Kantinentag drängen. „Big brother is watching you“ schockiert nicht mehr, sondern wird als hinzunehmendes Übel akzeptiert, denn die technischen Überwachungsmöglichkeiten bleiben trotz aller Enthüllungen abstrakt.

Wenn es bei dieser Bundestagswahl nicht gelingt, die 5-Prozent-Hürde zu nehmen, dann bedeutet das keinesfalls das Ende der Piraten. Die Gefahr, dass die Piraten dadurch zu einer Splitterpartei werden, besteht kaum, sofern sich die Partei weiter konsolidiert. Die Piraten sind, auch wenn ihr Ursprung in der Netzpolitik liegt, inzwischen definitiv keine Ein-Themen-Partei mehr. Ähnlich wie bei den Grünen, die den Aspekt der Umweltpolitik auf die übrigen Felder der Politik ausdehnten und mit ihnen verwoben, ist dies auch bei den Piraten zu beobachten.

Wenn der Piratenpartei im derzeitigen politischen Geschehen und trotz der Schwäche der Grünen der Einzug in den Bundestag nicht glückt, wird es allerdings auch nicht einfacher werden für die Zukunft. Es wäre das zweite Mal, dass der Einzug in den Bundestag misslingt. Inwieweit dann auch die Pannen der letzten Jahre dazu beigetragen haben werden, ist Spekulation. Geholfen hat es jedoch sicherlich nicht.

Artikelende

Weiterführendes

Die Piraten kurz vor dem ersten Erfolg auf Landesebene

Erste Betrachtung der Piratenpartei – noch vor dem Hype

Kommentare


  • Leler sagt:

    Blödsinn.
    Die Piraten mögen eine Spaßpartei sein (oder auch nicht, das mag jetzt jeder selbst kategorisieren), aber dennoch wäre eine solche Auflistung wie hier von jeder der sogenannten Volksparteien wahrscheinlich genau so lang.
    Da haben sich die Piraten allenfalls mal einen Fauxpas erlaubt, als so manches was (früher) schon bei den großen passiert ist.
    Ich nehme das (alles) also nicht allzu ernst.

  • Ralle sagt:

    Die Frage wäre wer sponsert so eine Partei denn es gibt in fast jeden Land eine Piratenpartei mit allen Unterordnungen es ist jetzt noch ein zerstrittener Haufen aber logistisch eine Weltpartei und stärker an Mitgliedern wie die Internale und die KPdSU

  • Ralle sagt:

    Und wer sind sind die Hintermänner die Mitglieder scheinen außer den üblichen Klüngel und den fehlenden Findungkurs, die Flügelkämpfe nur dies Weltumspannde Parteiennetz da ist nichts autonomes zufinden eher eine gestaffelte Struktur paßt da nicht!

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