Thanks, Jon! – Vivaldi 1.0 ist da

7. April 2016

Seit Opera Software, der Hersteller des gleichnamigen Browsers, selbigen aufgab und viele Entwickler entließ, um künftig ein mainstreamigeres Produkt auf Google-Chrome-Basis zu entwickeln, waren viele Opera-Fans browsertechnisch erst einmal heimatlos. Das könnte sich nun ändern, denn mit Vivaldi steht nun wieder ein veritabler Nachfolger bereit, der die alte Opera-Philosophie fortführt.

Der alte Opera-Browser gehörte mit zu den Urgesteinen der Webbrowser, viele Ideen, die heute in jedem anderen Browser stecken, wurden von Opera erfunden oder zuerst umgesetzt. Anfangs Shareware, die entweder lizenziert oder mit Werbebanner in der Oberfläche zu bekommen war, wurde Opera später kostenlos. Die Closed-Source-Eigenschaft hat auch viele Linuxnutzer nicht sonderlich gestört, der Funktionsumfang war für Anwender, die möglichst viel aus ihrer Browseroberfläche herausholen wollten, ohne in einer Flut von Erweiterungen zu ersticken, konkurrenzlos. Doch für einen kostenlosen Opera war es bereits zu spät und Firefox unerreichbar. Als dann auch noch Chrome auf der Bildfläche erschien, waren die Tage des Browsers gezählt.


Browserfenster im Ubuntuusers-Farbton

Das heutige Opera hat mit dem einstigen Expertenbrowser hingegen nicht mehr viel zu tun. Davon hat sich Jon von Tetchner, der ehemalige Opera-Chef, nicht beirren lassen. Fast trotzig gründete er eine neue Firma, scharte viele Entwickler des ehemaligen Teams wieder um sich – und versucht nun mit Vivaldi an alte Opera-Zeiten anzuknüpfen – Vivaldi will dort weitermachen, wo Opera 12 aufgehört hat.

Für den mündigen Nutzer

Das könnte interessanterweise sogar gelingen, denn Vivaldi hat gegenüber den Mitbewerbern ein Alleinstellungsmerkmal. Zwar setzt auch Vivaldi wie inzwischen Opera auf Google-Technik und entwickelt keine eigene Browser-Engine mehr, das Anwenderparadigma ist jedoch ein anderes. Während die Browser von Edge über Firefox bis zu Chrome in den letzten Jahren immer stromlinienförmiger geworden sind, Funktionen entfallen lassen und Einstellungen vor den Nutzern verstecken, geht Vivaldi einen anderen Weg. Hier wird in der Grundeinstellung nicht davon ausgegangen, dass der Benutzer ein technischer Analphabet ist, sondern Funktionen und Einstellungen werden zahlreich angeboten, um eine weitgehende Anpassung an individuelles Surfverhalten auch mit Bordmitteln zu ermöglichen. Maxime von Vivaldi ist nicht die Einfachheit um jeden Preis, wie es Google Chrome und Firefox propagieren, sondern Vivaldi will anspruchsvollen Nutzern das Konfigurieren und Verwalten möglichst einfach machen.

Vivaldi ist mit der gestern erschienenen Version 1 noch lange nicht da, wo Opera einmal stand – das dürfte vor allem auch dem Umstand geschuldet sein, dass die jetzt verwendete Blink-Engine eben nicht identisch mit der alten Presto-Technik ist. Gleichwohl erinnern die schon jetzt gebotenen Features deutlich an alte Opera-Zeiten.

Funktionsumfang

Die Tastaturbedienung wird nicht stiefmütterlich behandelt, Tastenkürzel kommen offensiv zum Einsatz. Bei Firefox wurden die Tabgruppen gerade erst ausgebaut, mit Vivaldi sind sie nun wieder da – und zwar so unkompliziert wie früher bei Opera, indem man einfach Tabs auf andere Tabs zieht. Viele Kleinigkeiten, die alten Opera-Nutzern vertraut sein dürften, sind ebenfalls wieder mit an Bord. Die Seitenleisten heißen Paneele, F4 öffnet die Seitenleisten und Alt+P die Einstellungen. Vor- und Zurückbutton sind immer sichtbar, zusätzlich gibt’s den berühmten Vor- und Rücklauf. Auch mehrere Webseiten nebeneinander in einem Fenster, Notizen, Lesezeichen und Mausgesten, Statuszeile mitsamt Funktionen, verschiedene Farbschemata für die Oberfläche, Sitzungsverwaltung, Notizzettelfunktion und Schnellwahl dürften ehemaligen Operanern bekannt vorkommen.

Baustellen

Aber auch die Schwachstellen und die noch fehlenden Funktionen springen ins Auge. Man ist ambitioniert gestartet, teilweise wohl zu ambitioniert. Mal eben einen neuen E-Mail-Client auf Chrome-Basis zu programmieren war wohl doch nicht so einfach wie gedacht. War in den ersten Entwicklerversionen von Vivaldi noch der E-Mail-Bereich in der Seitenleiste vorhanden, der ein „coming soon“ versprach, wurde diese Funktion nun wieder vollständig entfernt. Auch alle Menüeinträge, die auf den integrierten Mail-Client verwiesen, sind wieder verschwunden.


Allein mit den Tabs kann man schon eine Menge anstellen

Auch die „seitenspezifischen Einstellungen“ sind bislang nur als rudimentäre Chrome-Funktion verfügbar und nicht in die Vivaldi-Einstellungen integriert. Proxyserver können nicht über die Oberfläche eingestellt, sondern nur über Startparameter konfiguriert werden. Auch die deutschsprachige Übersetzung schwächelt noch etwas, bleibt aber den alten Opera-Begrifflichkeiten verhaftet. Insgesamt wird Vivaldi noch deutlich zulegen müssen, um den alten Stand wieder zu erreichen. Eine Internetsuite ist Vivaldi noch nicht.

Vom ehemaligen Opera 12, den Vivaldi ersetzen will, ist man daher noch weit entfernt. Die Integration von RSS, Mail und mehr unter einem Hut ist noch längst nicht gelungen. Die Webkomponente von Vivaldi hingegen ist schon ziemlich nah dran an dem, was alte Opera-Fans von ihrem Browser kannten und erwarten – wenngleich auch in einer modernisierteren Version. Die Leichtgewichtigkeit ist natürlich verschwunden, Vivaldi ist ebenso träge wie Chrome und Konsorten, aber die Bedienung für den „Poweruser“ um Welten besser – wenn er sich nicht Firefox & Co. erst zurechtbasteln möchte.

Linux im Fokus

Vivaldi ist dabei nicht nur bestrebt, den alten Opera nachzubauen, sondern bringt auch neue Funktionen. Am auffälligsten ist etwa die Möglichkeit, dass sich der Fensterrahmen ensprechend den Farben der gerade betrachteten Webseite einfärbt.

Open Source ist auch Vivaldi nicht und bleibt damit ebenfalls den Opera-Traditionen treu. Allerdings müssen sich Linuxnutzer nicht wie Anwender zweiter Klasse fühlen. Vivaldi für Linux ist gleichzeitig mit den Windows- und Mac-Versionen erschienen, außerdem stehen RPM- und DEB-Pakete sowohl für 32 als auch für 64 Bit zur Verfügung.


aus der Kategorie: / Tests / Browser

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Kommentare

Wow. Das mal eine Nachricht. Hatte mir Opera mal vor ewigkeiten angschaut, war bei mir aber ziemlich langsam. Nun Vivaldi unter Ubuntu-Budgie 16.04 64bit installiert. Was soll ich sagen: Läuft gefühlt wesentlich schneller als Firefox und Chrome. Schönen Dank für den Artikel.

— Marko · 7. April 2016, 13:06

Mit Vivaldi macht surfen wieder Spaß und Opera 12.x darf nun endlich in die wohlverdiente Rente gehen. 100 % rund läuft noch nicht alles, so werden Videos auf T-Online noch nicht abgespielt (trotz installiertem pepperflashplugin-nonfree), die Sprache des UI kann nicht über die Einstellungen definiert werden (nutze lieber englisch als deutsch), aber dafür, dass der Browser gerade mal in der Version 1.0 ist, ist er hervorragend. Ich denke mal, “Kinderkrankheiten” sind in Ordnung, bin gespannt auf nachfolgende Versionen und Verbesserungen.

— r0th0m · 7. April 2016, 16:48

@ Martin Zabinski

Im Grunde genommen ähnlich wie Mozilla. In Vavaldi sind diverse Suchmaschinen sowie Lesezeichen diverser Seiten hinterlegt. Dafür müssen die jeweiligen Betreiber Betrag X zahlen.

Zudem lässt Tetzchner wohl auch einen Teil seines Privatvermögens mit einfließen.

Fryboyter · 7. April 2016, 18:39

Wow, dieser Artikel könnte 1:1 von mir sein. ;-) Ich kann dir nur 100%ig recht geben. Ich beobachte Vivaldi auch schon von Anfang an und mittlerweile bin ich nun doch an den Punkt angelangt, dass ich Vivaldi nun endgültig zu meinem Hauptbrowser machen und Firefox in die 2. Reihe verbannen werde.

Vivaldi ist natürlich noch nicht perfekt und es fehlen mir hier und da noch ein paar Features (z.B. seitenspezifische Einstellungen oder “Öffnen mit …” -> in einem beliebigen anderen Browser) bzw. Verbesserungen bestehender Features (z.B. im Speeddial per Drag&Drop Einträge in Ordner zu sortieren oder Optimierung der Tabgruppen, siehe diesbezüglich das Firefox-Addon “Tree Style Tab”).

Aber letztlich hat Vivaldi jetzt bereits einen Stand erreicht, der mich dazu bewegt, Firefox den Rücken zuzukehren. Vivaldi ist noch nicht perfekt, aber alle mal besser als mein zurechtgefrickelter Firefox, bei welchem ich mehr schlecht als recht versucht habe (und auch lange damit gelebt habe), Opera 12 Funktionalität wieder herzustellen. Bei Vivaldi muss ich aber aktuell schon weniger abstriche machen, als bei Firefox, deswegen werde ich jetzt auch zu Vivaldi wechseln.

Aber ich bleibe vorerst standardmäßig bei der Snapshot-Version. Wenn meine gewünschten Feature (siehe 2. Absatz) aber implementiert sind und stabil laufen, werde ich zur Stable-Version wechseln.

— Karsten · 7. April 2016, 19:31

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