Gnome 3 steht unübersehbar in den Startlöchern, Betaversionen stehen zum Ausprobieren bereit. Doch auch, wenn die Software noch längst nicht fertig ist, zeichnet sich bereits jetzt deutlich ab: sie wird Rückschritt und Fortschritt zugleich sein.
Optisch wie technisch ist das dritte Gnome ein gewaltiger Schritt nach vorn: Animationen, Eleganz – und ein neues Konzept, das nicht mehr wie aus den 90er Jahren zu stammen oder von Windows oder Mac kopiert zu sein scheint. Die Krux daran: genau diese Änderungen sind zugleich die größten Probleme.
Aussehen
Da wäre zunächst die Optik. Die filigrane Eleganz von Gnome 2 ist passé. Es gibt nun viel mehr Weißraum, die Symbolik ist derart überdimensioniert, dass ein über die Tastatur laufendes Huhn damit klarkäme. Die Titelleisten sind klobig, die Buttons darauf haben Windows-XP-Luna-Qualitäten. Eleganz erreicht das neue Gnome allein über dunkle Farbtöne und Effekte. Strukturelle Ästhetik scheint der Gnome-Shell völlig abhanden gekommen zu sein. Die Effekte sind großartig – aber die Proportionen der Elemente stimmen dafür einfach nicht mehr. Jede Leiste, jeder Bereich der neuen Shell hat eine andere Größe und Breite; Statustexte allerorten, überflutende Symbolwüsten in den Auswahlmodi.
Dickere Fensterleisten in Gnome 3
Polemisch könnte man sagen, es wirkt wie eine auf Grobmotoriker zielende Mischung aus Tablet-Oberfläche und Fahrkartenautomat. Im Gegensatz zum bisherigen Gnome (man denke nur an die sich die Waage haltenden zwei schlichten Leisten oben und unten) wirkt die Shell unruhig und zusammengewürfelt.
Eingeschränkte Anpassbarkeit
Nun gut, die Optik lässt sich am einfachsten ändern, gravierender sind funktionelle Aspekte. Vereinfachung, „Simplifizierung“, Übersichtlichkeit. Das war und ist das Credo Gnomes und das macht den besonderen Reiz dieses Desktops aus. Aufgeräumtheit schön und gut, aber nun bekommt man allmählich wirklich den Eindruck, dass eindeutig übertrieben wird. Die Möglichkeiten des Nutzers zur Anpassung „seines“ Desktops werden mit Gnome 3 noch weiter beschnitten, als Gnome 2 dies schon tat. Die obere Leiste – quasi zur Statusanzeige degradiert – ist permanent sichtbar, beherrscht den gesamten Monitor. Die Anzeigeart der Ansichten kann nicht konfiguriert werden. Die ehemalige Arbeitsfläche fungiert nur noch als Bilderrahmen, der eigentliche „Desktop“ dient nicht mehr der Bearbeitung und Ablage von Dateien. Die Panels/Leisten lassen sich nicht mehr mit zusätzlichen „Applets“ bestücken und somit individuell um Funktionalität erweitern. Gnome zwingt überdies seine Nutzer nun geradezu zum Gebrauch des Konzeptes der „Aktivitäten“.
Angst vor Schaltflächen
Was vor Kurzem noch als Witz taugte und dem Verfasser sogar übelgenommen wurde (was soll das vollkommen unsinnige GNOME bashing) wird nun wohl tatsächlich Realität: Beim Standard-Gnome wird es künftig nur noch einen einzigen Button in den Fenstertitelleisten geben – das Schließen-Kreuz, sonst nichts mehr. Minimieren und Maximieren bleibt dem Menü vorbehalten.
Kein Witz mehr: Tschüss, Maximieren/Minimieren!
Spätestens jetzt fragen sich Viele, ob man die Verantwortlichen noch ernstnehmen kann. Dabei ist die Entscheidung zum Wegfall dieser quasi auf allen Systemen vorzufindenden Buttons logisch (denn das Konzept des Minimierens gibt es in der Shell eigentlich nicht mehr), die Begründung allerdings absurd: die Nutzer – kein Witz! – könnten ja „versehentlich draufklicken“ („… but makes your window vanish if hit accidentally“). Konsequent fortgedacht müsste sich Gnome also irgendwann selbst abschaffen, denn „die Nutzer könnten ja versehentlich den PC einschalten“.
Systemeinschnitte
Und dann ist da natürlich noch das leidige Thema Systemvoraussetzungen. Die Gnome-3-Shell kann man nur mit entsprechender Hardware nutzen. Ist der Rechner zu alt oder enthält er die „falsche“ Graphikkarte, bekommt man statt der neuen Optik nur eine Mitteilung des Bedauerns – und den alten Gnome-2-Desktop vorgesetzt.
Shell oder nicht Shell, Zwischenlösungen gibt es nicht
Praktisch und aus Anwendersicht schießt sich Gnome damit ironischerweise wieder genau in die 90er Jahre zurück: in die Zeiten, wo man Linux nur durch Zufall zum Laufen bekam, der Bildschirm oft einfach nur schwarz blieb oder statt einem Desktop ein schickes buntes abstraktes Muster anzeigte. Die Frage, ob man auf seinem PC „Linux“ wie erhofft nutzen kann, wird wieder zur Glückssache. Natürlich gibt es das Fallback und auch Alternativen. Doch die helfen nicht gegen enttäuschte Erwartungen, wenn der Nutzer doch eigentlich das schicke neue Gnome haben wollte. Am Ende steht dann nur wieder die Erkenntnis, dass „Linux nicht funktioniert, schwierig ist“, usw. Hier könnten die Gnome-Entwickler sogar von Microsoft noch etwas lernen. Selbst Windows 7 läuft noch auf ältesten Maschinen, da sämtliche Funktionen, die High-End-Graphik erfordern, strikt optional sind; es besteht keine Notwendigkeit für Notfalllösungen. Gnome 3 mit Shell hingegen läuft entweder ganz oder gar nicht.
Bedeutungsverlust
Die gravierende Umstellung (völlig neues Bedienkonzept, zwingende hohe Hardwareanforderungen) erstaunt umso mehr, als dass Gnome sich bislang als traditioneller und sich kontinuierlich entwickelnder Desktop positionierte. Dass sich ausgerechnet die Gnome-Entwickler für einen de facto völligen Bruch mit Althergebrachtem entscheiden, ist daher eine Überraschung, zumal ohne Not mit den klassischen Konzepten gebrochen wird. Gnome geht damit ein hohes Risiko für die eigene Bedeutung in der Linuxwelt ein. In den letzten Jahren hat sich der Gnome-Desktop zur gefühlten Nr. 1 unter den Linux-Desktops entwickelt. Ursprünglich KDE hinterherhinkend, emanzipierte er sich spätestens mit Gnome 2 und wurde so etwas wie das Gesicht von Linux. Kaum eine Distribution kam ohne Gnome aus, die großen Unternehmensdistributionen von Suse und Red Hat setzen auf Gnome als Standard. Vor allem Ubuntu aber verhalf Gnome zu weiter Verbreitung und Bekanntheit. War gerade hierzulande früher KDE das Aushängeschild schlechthin, wurde Gnome im Zuge des Ubuntu-Hypes ebenfalls immer populärer. Die Distributionen waren austauschbar, Gnome war als Schnittstelle zum Nutzer fast Standard, überall fand man ein ähnlich gut vorkonfiguriertes Gnome, mal in blau, grün oder braun. Diese Zeiten sind nun vorbei, mit Gnome 3 dürfte das Bild von Linux nun wieder fragmentarischer werden. Gnome wird künftig nicht mehr „der Desktop“ oder gar Referenzoberfläche sein, denn den ersten Kollateralschaden gab es schon: Ubuntu mit Unity. Wer in Zukunft Ubuntu installiert, bekommt kein Standard-Gnome mehr vorgesetzt. Ob auch andere Distributionen nachziehen und lieber auf Eigenentwicklungen bzw. Alternativen setzen werden, weil sie ihrer Nutzerbasis nicht zumuten wollen, Opfer experimenteller Designstudien zu werden, lässt sich noch nicht absehen.
Fatal
Festzuhalten ist, dass Gnome 3 samt Gnome-Shell den Desktop neuerfindet. Die Bedienung ändert sich radikal und das alles unter dem Slogan der einfachen Zugänglichkeit für den normalen Anwender. Doch ob der noch einen guten Zugang zu Gnome findet, darf bezweifelt werden. Will man wirklich einen Desktop nutzen, der nicht einmal mit den üblichen Fensterknöpfen daherkommt? Sicher, man kann alles ändern – aber die Masse bleibt eben doch beim Standard. Macht man es damit nicht ausgerechnet Windowsumsteigern noch schwerer, einen problemlosen Einstieg bei Linux zu bekommen? Alle Welt setzt derzeit auf „Apps“ – Gnome schmeißt sie kurzerhand raus und bringt den starren Einheits-Desktop, der sich kaum noch modifizieren lässt. Das neue Gnome wirkt ambitioniert um den Preis des Bruchs mit vertrauten Konzepten. Die Änderungen sind mutig, vielleicht zu mutig. Gnome will einen Desktop für die Masse entwickeln, könnte sich dieses Mal damit aber arg verkalkuliert haben. Die Shell wirkt eher wie ein futuristisches Projekt für fortgeschrittene Anwender, die sich nicht scheuen, auch einmal neue Arbeitsweisen auszuprobieren. Ob man diese Klientel jedoch gleichsam mit der Philosophie der Funktionsreduzierung glücklich macht, kann ebenso bezweifelt werden. Der normale Nutzer hingegen braucht Desktop-Icons, eine flexible Taskleiste und – platt ausgedrückt – die gewohnten Knöppe an den gewohnten Stellen. Beides wird Gnome 3 nicht bieten. Immerhin wird das alte Gnome 2 nicht abgeschafft, es lebt modifiziert weiter als Fallbacklösung für schwächere oder falsche Hardware. Somit besteht Gnome 3 nun aus zwei unterschiedlichen Oberflächen, je nach vorhandener Rechnerausstattung. Wenn das mal nicht die Nutzer verwirrt.
Dieser Artikel ist Bestandteil der „Not my Desktop“-Reihe.
Bereits erschienen:
• Wird GNOME wieder zum Zwerg?
• Eine Woche Gnome 3: Der uniformierte Desktop
• Strategien zur GNOME-3-Vermeidung
• Gnome-Shell – es wird immer unübersichtlicher