Statt Jahresrückblick und Neujahrswunsch (btw: Frohes neues!) ein Ausblick auf das kommende Jahr, speziell zur Frage, ob es denn diesmal das Jahr für Linux werden wird.
Das vergangene Jahr 2011 war für Linux turbulent: Gnome 3 ersetzte in vielen Distributionen den traditionellen Linuxdesktop, Ubuntu baute sein Unity weiter aus, LXDE nahm als Lubuntu einen gleichberechtigten Platz im Canonical-Universum ein und OpenOffice versauerte und LibreOffice wurde zum neuen Star am Linux-Office-Himmel. Aber war es das Linuxjahr? Eher nicht.
Was muss eigentlich passieren, damit man ein Jahr als das Linuxjahr wird bezeichnen können? Der Marktanteil von Linux und Windows verkehrt sich ins Gegenteil? Oder reicht es, wenn mehr Nutzer Linux nutzen als Mac OS und Windows? Stallman und Torvalds rufen das Linux-Jahr offiziell aus? Die Sidux-Forks werden zweistellig?
Seien wir realistisch: all dies wird zumindest in diesem Sonnensystem nicht mehr passieren. Als Server-System ist Linux längst etabliert, aber wenn vom Linuxjahr die Rede ist, dann ist eher die Linux-Verbreitung auf dem Desktop gemeint. Dort sieht es weiterhin düster aus. In den letzten Jahren wirkte es fast, als würde es Gnome 2 gelingen, eine recht weitreichende Homogenität unter den Distributionen zu schaffen, die für eine breitere Akzeptanz im Massenmarkt sicherlich nötig wäre. Doch diese Phase ist schon wieder vorüber, seit Gnome 3 erschienen ist, kochen viele Distributionen wieder ihr eigenes Süppchen, „der Linux-Desktop“ zerfasert wieder in viele Einzelteile und wird unübersichtlicher.
Windows und Mac hingegen bieten ein recht homogenes System für den Anwender – und vor allem auch eine Kontinuität, die von so manchen Linuxoberflächen allzu oft torpediert wird, zugunsten neuartiger Konzepte und Ideen. Gnome hat den Desktop abgeschafft, Unity experimentiert mit Gewöhnungsbedürftigem. XFCE und LXDE hingegen haben zu wenig Entwickler. Diese Vielfalt beeindruckt zwar und ist praktisch, wenn man genau weiß, was man will, aber diese Vielfalt und Unbeständigkeit kann auch abschreckend wirken.
Es ist nicht davon auszugehen, dass sich eine einzige Oberfläche für Linux in absehbarer Zeit durchsetzen wird. Das ist Vorteil und Nachteil zugleich. Vorteil, weil die Wahlmöglichkeiten unter Linux einerseits seinen besonderen Reiz ausmachen, Nachteil, weil es auf diese Weise kaum zum Durchbruch auf dem Desktop kommen wird. Linux ist unterm Strich so einfach und komfortabel geworden wie Windows (sofern man bei Windows von einfach und komfortabel anstelle von Gewöhnung sprechen mag) – wenn man dann erstmal das “richtige” Linux erwischt hat.
Zu vielfältig ist die Distributionskultur, es sind Nischensysteme in der Nische. Linux auf dem Desktop ist und bleibt bislang etwas für Liebhaber, für Spezialisten oder auch Normalos, die aus persönlichen oder politischen Gründen auf Windows verzichten möchten und können. Es ist quasi ein persönlicher Luxus, ein Luxus, der vor allem im Privatbereich oft noch mit Zeit und Aufwand erkauft wird. Ein Durchbruch von Linux auf dem Desktop wird es daher kaum geben können. Wer auf „das Linuxjahr“ wartet, wird lange warten können.
Infolgedessen stellt sich eher die Frage, ob das Linuxjahr nicht längst schon da war, es nur niemand richtig gemerkt hat. Kandidaten dafür gibt es jedenfalls ausreichend.
1991
Das Linux-Jahr schlechthin: Linus Torvalds erschafft ein neues Betriebssystem, das sich ein knappes Jahrzehnt später zur 3. Säule unter den Betriebssystemen mausern wird.
1998
KDE 1.0 erscheint und stellt für Linux erstmals eine integrierte Desktop-Lösung bereit; der erste echte „Linux-Desktop“ ist geboren.
2000
Gründung des freedesktop.org-Projekts, ohne das es heute vermutlich keine desktopübergreifende Dateiverwaltung, Tray-Icons oder auch Icon-Sets gäbe. Das Projekt legte den Grundstein zur komfortablen gemeinsamen Nutzung verschiedener Desktopsysteme und erschloss dem Nutzer somit die gesamte Vielfalt der Linux-Programme auf dem Desktop.
2002
Open Office 1 wird veröffentlicht und stellt die erste wirklich benutzbare Office-Lösung für Linux dar. Zum ersten Mal wird Linux damit überhaupt auch für den Büro- und Heimdesktop interessant.
2006/2007
Die Ubuntu-Begeisterung geht so richtig los, als neue, benutzerfreundliche Distribution mit eigenem Style und einfacher Benutzungsphilosophie bringt Ubuntu frischen Wind ins Linuxlager und macht „Linux“ erstmals auch auf dem Desktop für die breite Masse interessant.
2009
Linux knackt laut Market-Share-Report die 1-Prozent-Hürde beim Marktanteil von Desktop-Systemen.
2011
Auch dieses Jahr könnte als das Linux-Jahr angesehen werden, denn quasi durch die Hintertür erreichte Linux in Gestalt von Android einen Marktanteil von über 50% bei Smartphones – zugegebenermaßen nicht gerade eine klassische Desktopsituation.
Der letzte Punkt deutet es bereits an: Vielleicht kann es das Linux-Jahr für den Desktop schon deshalb nicht mehr geben, weil es den Desktop in absehbarer Zeit gar nicht mehr geben wird. Ohne Desktop auch kein Durchbruch auf dem Desktop.
Doch noch ist nicht aller Tage Abend. Gesetzt den Fall, dass es auch weiterhin Mac OS nur für Mac-Rechner geben wird, diesem der Duktus des Teuren und Exklusiven anhaftet und Microsoft seine Kundschaft weiterhin mit Produktaktivierungen und Restriktionen gängelt, wird Linux problemlos auch in den kommenden Jahren eine brauchbare Alternative für den Desktop-Einsatz darstellen und seine Daseinsberechtigung haben. Denn Linux überzeugt durch Offenheit, Flexibilität, Wahlfreiheit und eben auch ein technisch solides Fundament.
Man kann davon ausgehen, dass „das Jahr von Linux“ tatsächlich nicht mehr stattfinden wird, da es längst stattgefunden hat. Man muss sich nur für eine Jahreszahl entscheiden. Im Zweifel ist es für jeden einzelnen Linuxbegeisterten das Jahr, in dem er Linux für sich entdeckt hat.
In diesem Sinne: auf ein weiteres tolles Jahr mit Linux!