Seit einigen Jahren geht ein Riss durch die Gesamtheit der Internetnutzer: auf der einen Seite stehen diejenigen, die E-Mail vornehmlich im Browser nutzen, auf der anderen Seite jene, die auf ein extra dafür gemachtes Programm schwören. Beide Arten der Mailnutzung haben Vor- und Nachteile, bei hohem Mailaufkommen und vielen Adressen oder Identitäten gewinnt aber fast automatisch das klassische Mailprogramm.
Das Mailprogramm an sich ist aber noch lange nicht tot, auch wenn sein Stellenwert durchaus gesunken ist. Die Änderungen beim Entwicklungsmodell von Thunderbird machen es zwar nicht zwingend erforderlich, sich nun schon nach Alternativen umzusehen, doch nehmen wir diesen Wendepunkt einfach einmal als Anlass, um einen Blick auf die derzeitige Mailprogrammlandschaft bei Linux zu werfen.
Rückblick
Dass Linux einmal Entwicklungsland war in Sachen graphische Mail-Clients, ist heute kaum noch vorstellbar. E-Mail auf der Konsole war stets eine Domäne der Unixe, doch graphisch sah es einst bescheiden aus. Um die Jahrhundertwende gab es eigentlich nur drei Möglichkeiten, wenn man mit Linux graphisch E-Mails verschicken wollte. Einerseits mit XF-Mail, andererseits mit KMail. Daneben gab es nur noch den Netscape Communicator, die Mutter von Mozila und Firefox, die auf Linux portiert worden war – der unter Windows zwar recht ausgereift, unter Linux jedoch im Motif-Look (wie auch XF-Mail) gehalten war und alles andere als stabil funktionierte. Schlagartig besser, vor allem für Umsteiger, wurde es mit der Mozilla-Suite: Wer Netscape 6/7 oder die Mozilla-Suite schon von Windows kannte, konnte damit unter Linux nahtlos weiterarbeiten.
Heute
In diesen Tagen herrscht an Mailprogrammen für Linux kein Mangel mehr. Neben Mutt, dem Konsolenmailer schlechthin, stehen dem Linuxnutzer je nach Anwendungsfall die verschiedensten Programme zur Verfügung. Frühere Alleinstellungsmerkmale wie HTML-Anzeige, IMAP neben POP3 oder Spamfilter gehören nun quasi zum Standard.
1. KMail
KMail ist einerseits ein Klassiker unter Linux, andererseits dürfte es sich aktuell um das sich am schnellsten fortentwickelnde Mailprogramm handeln. Nur bei den neueren Distributionen ist jedoch KMail 2 schon standardmäßig enthalten. KMail 2 setzt, wie auch das restliche KDE 4, auf Akonadi, Nepomuk und Datenbankspeicherung – mit allen Vor- und Nachteilen. KMail lässt sich auch wunderbar außerhalb von KDE nutzen, doch installiert man es z.B. unter Ubuntu nach, landet damit auch fast das gesamte restliche KDE auf der Festplatte. KDE-typisch gibt es bei KMail kaum eine Funktion, die sich nicht optimal an die Wünsche des Nutzers anpassen ließe. KMail speichert Mails traditionell via Maildir, also jede E-Mail einzeln in einer Ordnerstruktur.
2. Thunderbird
Sieht man Thunderbird in einer Linie mit seinen Vorgängern Mozilla-Suite und Netscape, dann handelt es sich ebenfalls um einen Klassiker. Unter Linux ist Thunderbird als Schwesterprogramm zu Firefox seit Jahren äußerst beliebt, es ist zuverlässig, optionenreich und stabil. Nicht erst seitdem Canonical es zur Vorauswahl für Ubuntu machte, kann man es als Quasi-Linux-Standardmailprogramm gelten lassen. Neben E-Mail bietet es auch noch RSS-Reader und Usenet. Thunderbird ist eines der wenigen Mailprogramme, die unter Linux Mails im Mbox-Format speichern, d.h. alle Mails eines Ordners in nur einer Datei – praktischer für die Datensicherung, aber etwas fehleranfälliger und langsamer beim Zugriff auf große Mailarchive. Seit Thunderbird 12 ist optional eine Maildir-ähnliche
Speicherform, eine Eigenentwicklung von Thunderbird, möglich.
3. Evolution
Evolution ist das, was unter Linux am ehesten an Outlook herankommt. Noch bevor es die Kontact-Ansicht bei KDE gab, war Evolution eine passable Möglichkeit, Termine und E-Mails unter einer Oberfläche zusammenzufassen. Ursprünglich war Evolution in Version 1 auch optisch eine Outlook-Kopie, nachdem das quasi ausgereifte Evolution 2 jedoch von Gnome übernommen wurde und sich Outlook selbst weiterentwickelt hat, haben die Programme äußerlich nicht mehr allzu viel gemein. Aktuell hat Evolution etwa das Entwicklungstempo erreicht, das demnächst auf Thunderbird zukommen wird: wesentliche Änderungen haben hier seit Jahren nicht mehr stattgefunden, man gibt sich konservativ und beschränkt sich bei der Entwicklung hauptsächlich auf Stabilitätsanpassungen. Für Nutzer, die ein verlässliches Programm ohne Überraschungen und mit allen „Basics“ suchen, ist unter Linux Evolution eine ebenso gute Wahl wie Thunderbird. Im Gegensatz zu diesem verfügt Evolution aber eben noch über Groupwarefunktionen. Auch RSS-Feeds lassen sich integrieren. Evolution speicherte früher ebenfalls in Mbox-Dateien, aktuell ist Maildir Standard.
4. Seamonkey
Der Messenger in Seamonkey entspricht im Wesentlichen Thunderbird, der Unterschied liegt in der Optik und darin, dass durch die Integration in den Browser Ressourcen und Platz gespart werden.
5. Opera
Etwas unter geht oft, dass auch das proprietäre Opera über eine nicht zu unterschätzende Mailkomponente verfügt. Statt auf klassische Ordnersortierung setzt Opera-Mail auf die Verschlagwortung von Nachrichten und die Anzeige mittels virtueller Verzeichnisse. Das Mailprogramm und der Editor werden als Tabs im regulären Browserfenster dargestellt. Neben Mail werden wie bei Seamonkey oder Thunderbird auch RSS- und Newsgroup-Verwaltung angeboten. Opera nutzt für die Mailspeicherung das eigene Format MBS, dabei handelt es sich im Wesentlichen um Mbox-Dateien.
5. Sylpheed
Sylpheed war die Linux-Antwort auf Windows-Programme wie Pegasus Mail: hochkonfigurierbar, mit vielen Features – vor allem zur Mailfilterung – und schnell. Wie dieses wird es von einer Einzelperson entwickelt, vom japanischen Programmierer Hiroyuki Yamamoto. Während Sylpheed zwischenzeitlich im Dornröschenschlaf lag, wird es in den letzten Jahren wieder kontinuierlich weiterentwickelt. Im Unterschied zu den meisten anderen Programmen verzichtet Sylpheed bewusst auf die Darstellung oder das Verfassen von HTML-Mails. Es existiert auch in einer Windows-Version. E-Mails werden im MH-Format, ähnlich der Maildir-Funktionsweise, abgelegt.
6. Claws-Mail
Claws-Mail ist eine Abspaltung von Sylpheed und entstand ursprünglich als progressiverer Entwicklungszweig (damals noch Sylpheed-Claws genannt) des sich eher langsam entwickelnden Ein-Mann-Projekts Sylpheed. Weitere Programmierer trieben die Entwicklung schnell voran und erweiterten Sylpheed um noch mehr Funktionen. Nachdem ersichtlich war, dass die Weiterentwicklungen nur zögerlich oder gar nicht in Sylpheed rückportiert wurden, machte sich das Projekt unter dem Namen Claws Mail endgültig vom Mutterprogramm unabhängig. Im Ergebnis verfügt Claws Mail dadurch heute über sehr viel mehr Funktionen und ermöglicht dem Nutzer mehr Kontrolle über seine Mailverwaltung, ist dabei aber weiterhin rasant schnell und zuverlässig. Die Kehrseite der Medaille ist ein gewisser Grad an Unübersichtlichkeit; Claws Mail erfordert mehr Einarbeitung als das noch eher auf Konzentrierung aufs Wesentliche ausgerichtete Sylpheed. Claws Mail lässt sich weitreichend mit Skripten kombinieren und verfügt ähnlich wie Thunderbird über eine Erweiterungs-Schnittstelle, für die zahlreiche Erweiterungen und Plugins verfügbar sind. Auf diese Weise lässt sich Claws Mail z.B. auch zum RSS-Reader aufrüsten. Ebenso werden Themes unterstützt, auf diese Weise kann man Claws Mail z.B. in der Optik anderer Mailprogramme, wie Netscape, Evolution oder KMail, verwenden. Auch Claws Mail hält an der HTML-freien, bewusst puristischen Strategie fest, die Anzeige von HTML-Mails ist mit verschiedenen Erweiterungen jedoch leicht möglich. Die Mails liegen wie bei Sylpheed in einer MH-Hierarchie.
7. Postler
Postler ist ein noch recht junges Mailprogramm aus dem ElementaryOS-Projekt – und wird es auch bleiben, denn das Projekt ist schon wieder beendet. Im Gegensatz zu den übrigen hier vorgestellten Vertretern beherrscht es ausschließlich IMAP; POP3 wird nicht unterstützt. Das Programm ist äußerst schlicht gehalten, es gibt nicht einmal einen Einstellungsdialog, die Kontodetails erreicht man über einen Kontextmenüklick auf den Posteingang. Mit seinem Erscheinungsbild wäre es eigentlich das perfekte Mailprogramm für Gnome, denn weniger Oberfläche und Funktionalität für E-Mail geht kaum. Postler eignet sich vor allem für den schnellen Zugriff auf ein Webpostfach oder die Überwachung selbigem, ohne sich dazu im Browser aufhalten zu müssen.
8. Balsa
Last but not least gibt es auch noch Balsa, das ehemalige Gnome-Standardmailprogramm, bevor Evolution zum Gnome-Projekt wurde. Balsa ist, obwohl es noch vor der aufkommenden Gnome-Philosophie der Einfachheit und Feature-Reduzierung entstand, ein sehr übersichtliches und einfaches Programm. Es ist wie Sylpheed und Claws Mail schlank und schnell, besitzt aber nur die Kernfunktionalitäten eines Mailprogrammes. Es ist ein einfacher Client, der zuverlässig Mails sendet und empfängt, nicht mehr und nicht weniger. Im Vergleich zu Postler wirken seine Möglichkeiten jedoch schon fast wieder ausufernd. Unter der Ägide von Fedora wird Balsa aktiv weiterentwickelt. Balsa speichert Nachrichten ebenfalls im althergebrachten Mbox-Format.
Unabhängig davon, ob man auf Webmail steht oder eher nicht – wenn der Wunsch nach einem Programm da ist, dürfte unter Linux für jeden Nutzer das passende Programm bereitstehen. Allein die Qual der Wahl, die bleibt – linuxtypisch – dem Anwender mal wieder.