Eine Vorstellung davon, was aus Gnome hätte werden können, wenn es unter traditionellen Gesichtspunkten weiterentwickelt worden wäre, vermittelt der Linux-Desktop Cinnamon: Moderne Technik, aber mit einer Bedienung, die keine Experimente eingeht.
Als Gnome sich von der traditionellen Desktopansicht löste und mit der Gnome-Shell etwas revolutionär Neues in Sachen Bedienkonzepte auf den Linuxdesktop brachte, löste es eine Flut von Forks und Alternativlösungen aus. Distributionen, die bislang auf Gnome gesetzt hatten, suchten das Weite bzw. eine Möglichkeit, trotz Gnome-Shell weiterhin eine Gnome-zentrierte Desktopumgebung anbieten zu können.
Die Resultate sind bekannt. Ubuntu setzte auf Unity, Linux Mint entwickelte Cinnamon und Mate: – und sogar Red Hats Unternehmensdistribution lieferte statt originaler Gnome-Shell die eiligst nachgeschobene Classic-Ansicht der Gnome-Shell aus.
Von besonderem Interesse ist dabei Cinnamon. Denn während Mate anstrebt, das alte Gnome 2 zu bewahren, Unity Ubuntu-only und Gnome Classic auch nur eine anders konfigurierte Gnome-Shell ist, versucht Cinnamon den Spagat aus moderner Technik mit traditionellerem Erscheinungsbild – und ist dabei nicht nur für Linux Mint, sondern distributionsübergreifend verfügbar. Ob Ubuntu, Fedora, Suse, Arch oder Debian – Cinnamon steht quasi mit einem Klick bereit.
Ein genauerer Blick auf Cinnamon
Auf den ersten Blick sieht es zunächst einmal recht langweilig aus. Start-Menü und in Starter und Fensterbalken getrennte Desktopleiste – das Bedienkonzept von Windows 95 war kein anderes. So wirkt Cinnamon auf den Betrachter auch nur wie eine weitere Spielart des klassischen Desktop-Paradigmas, das auch KDE, XFCE und viele viele andere weiterhin verwenden.
Doch auf den zweiten Blick enthält Cinnamon auch Annehmlichkeiten und Neuerungen, mit denen sonst die Gnome-Shell punkten kann. Auch die dezenten Animationen und Effekte hat man sich bei Gnome abgeschaut. Wo es KDE in der Grundeinstellung leicht zu übertreiben scheint oder XFCE es leicht zu untertreiben scheint, wirken Animationen bei Cinnamon genau wie bei Gnome zweckmäßig.
Mit Weißraum geht Cinnamon hingegen deutlich sparsamer um als die Gnome-Shell. Insgesamt wirkt dadurch alles weiterhin filigraner und weniger aufgeblasen wie bei der Gnome-Shell, der Monitorbereich wird besser ausgenutzt. Allein deshalb wirkt die Oberfläche schon traditioneller, wie aus Zeiten, als die Monitore noch nicht so riesig waren.
Was Gnome hätte werden können …
Cinnamon wirkt tatsächlich so, wie Gnome 3 hätte werden können, wenn die Gnome-Entwickler ihren Desktop einfach nur fortentwickelt hätten, statt in einem harten Bruch das althergebrachte Bedienkonzept über den Haufen zu werfen. Die Leistenbestückung des zimtigen Desktops erinnert frappierend an Gnome-2-Zeiten, nur einen „Orte“-Eintrag muss man sich noch als Erweiterung dazuinstallieren. An derlei „Applets“ besteht kein Mangel, es wirkt, als wäre hier die Mint-Community in die Fußstapfen der alten Gnome-2-Panel-Applets getreten. Auch die von Gnome 2 vertraute doppelte Leiste ist von Haus aus aktivierbar.
Das Menü ist hingegen dreigeteilt und bildet die Programmkategorien sehr übersichtlich ab, ohne dass man sich mit der Maus in horizontalen Menüs verirren würde oder aber gar keine Gruppierung nach Aufgabenbereichen mehr vorfände.
Ein Druck auf die Windows-Taste setzt den Fokus wie bei Gnome auf die Suchfunktion des Startmenüs – so lassen sich ohne Mausbenutzung äußerst fix Programme und Dateien aufrufen. Man braucht nur die ersten Buchstaben des gesuchten Dateinamens eintippen – schon hat man das Ergebnis, was den Griff zur Maus überflüssig macht.
Die Einstellungen sind ähnlich wie bei KDE und XFCE in einem Fenster versammelt und verteilen sich nicht wie bei Gnome auf zwei Einstellungsbereiche. Es braucht kein Tweak-Tool, um die Oberfläche anzupassen. Entsprechend umfangreicher fällt das Einstellungsfenster aus.
Nemo statt „Dateien“
Die Unterschiede zu Gnome machen sich vor allem auch beim Dateimanager bemerkbar. Statt Nautilus („Dateien“) nutzt Cinnamon den Dateimanager Nemo – einen Nautilus-Fork, der weiterhin das bietet, was inzwischen längst aus dem Gnome-Dateimanager entfernt wurde. F3 zaubert eine zweigeteilte Ansicht herbei, das Menü ist klassisch gehalten, es gibt weiterhin eine Baumansicht und eine kompakte Anordnung ( die die Dateien als Liste mehrreihig anordnet). Auch merkt sich Nemo weiterhin die eingestellten Ansichtsoptionen für jeden einzelnen Ordner. Mit der Backspace-Taste lässt sich zurücknavigieren. Auch Kleinigkeiten wie das Anlegen von neuen Dateien über das Kontextmenü hat Nemo beibehalten.
Diverse Buttons machen die Dateiverwaltung variabel. Benutzt man Nautilus und Nemo eine Weile parallel, kommt man sich beim Gnome-Dateiverwalter schnell gefangen vor. Denn die auf gute Optik bedachten Gnome-Entwickler haben sich hier anscheinend etwas verrannt. Unbestreitbar sieht „Dateien“/Nautilus sehr kompakt und elegant aus, doch die Usability ist teils grausam – selbst wenn man Zusatzfeatures wie geteilte oder Baum-Ansicht für überflüssig hält.
Zum Verzweifeln ist bei „Dateien“ der Umstand, dass die Verzeichnisse sich nicht mehr den zuletzt gewählten Ansichtsstatus merken und stattdessen im Vorgabemodus erscheinen – und die Optionen für die Listenansicht eingeschränkt sind. Der Symbolbereich verwirrt mit einer vollgestopft wirkenden Ansammlungen von Buttons, die keinem System zu folgen scheinen. Direkt neben den Fensterbuttons klebt der Menü-Knopf, dann ein weiterer Menüknopf für Ansichtsoptionen und noch weiter links die Buttons für direkte Änderungen der Ansicht. Das hätte auch alles in ein Menü gepasst – so aber sucht man stets im falschen. Das Hamburger-Menü-Symbol wird gleich zwei Mal verwendet: eimal für das Menü und einmal für die Sortierung als Listenansicht. Wenn dann noch Tabs offen sind und die Suchfunktion bemüht wird, wird es völlig chaotisch.
Ruhig im Sinne einer klaren visuellen Linie wirkt Nemo dadurch zwar nicht, es leistet sich sogar Redundanzen – aber es schiebt die Bedienelemente dadurch auch nicht so weit zusammen, dass es keinen Spaß mehr macht und bleibt so auch flexibler auf die persönlichen Bedürfnisse anpassbar. Nemo ist im direkten Vergleich zu Nautilus daher nun das mächtigere Dateiverwaltungswerkzeug.
Das beste von Alt und Neu?
Cinnamon hat im Kern das aufpolierte, moderne, elegant-reduzierte Erscheinungsbild eines Gnomes, wirkt in der Bedienung jedoch für mit dem traditionellen Desktop vertraute Nutzer durchdachter und intuitiver – natürlich auch allein schon deshalb, weil der Großteil der Desktopoberflächen plattformübergreifend Vergleichbares bietet.
Cinnamon wirkt grundsolide und trumpft mit sinnvollen Neuerungen und behutsamer Weiterentwicklung statt radikaler Konzepte auf. Es vereint das klassische Desktop-Schema mit aktueller Technik und bedient damit im Grunde keine Nische, sondern das, was viele sich offenbar für ihre aktuellen Desktop-Rechner wünschen: Eine moderne, aber unaufdringliche Oberfläche mit ausreichend Möglichkeiten zur Anpassung.
Cinnamon empfiehlt sich damit für alle Desktoprechner bzw. Notebooks, wenn man das Ausufernde und Schnelllebige von KDE vermeiden möchte, das Bedienkonzept von Gnome eher hinderlich als komfortabel, Mate als Rückschritt und XFCE als zu eingeschränkt empfindet. In derselben Liga wie Cinnamon spielen aktuell wohl nur noch Unity und Elementary OS, für die man sich jedoch an eine Distribution binden muss und so durch einen gefühlten Lock-in-Effekt einen der Vorteile von Linux – die prinzipielle Austauschbarkeit der Distributionen – aufgibt.
Nachteile
Hauptnachteil von Cinnamon dürfte vor allem die Geschwindigkeit sein. im direkten Vergleich zur Gnome-Shell wirkt Cinnamon einen Tick behäbiger – was prinzipiell nicht verwundert, da seine Kernkomponenten ursprünglich auf älteren Gnome-Bestandteilen aufbauten. Neue Hardware mit ausreichend RAM und Graphikleistung sollte es daher schon sein, wenn man Cinnamon freudebringend einsetzen möchte. Für etwas ältere Rechner sollte man dann lieber zu Mate, XFCE oder auch KDE greifen, das auf Wunsch ohne Compositing auskommt.
Ein unaufdringliches Arbeitsgerät
Cinnamon ist ein passendes „Arbeitspferd“ bei aktueller Hardware, wenn auch optisch wenig aufregend. Wenn es visuell etwas beeindruckender und progressiver sein soll, dann bleiben immer noch KDE und Gnome. Für die tägliche Arbeit kommt es jedoch primär auf Zuverlässigkeit und Funktionalität an, was Cinnamon durchaus erfüllt. Kein Wunder, dass es inzwischen in vielen Distributionen bereitgestellt wird. Würde es von mehr Distributionen als Standardoberfläche verwendet werden, hätte es womöglich sogar das Potential, wie damals Gnome 2 zur De-facto-Linux-Standardoberfläche zu werden, zu jenem Erscheinungsbild, das man automatisch mit Linux assoziiert. Das ist jedoch angesichts des gemächlichen Entwicklungstempos eher nicht zu erwarten. Bis auf Weiteres haben daher nur die Linux-Mint-User das Vergnügen, sich primär an Cinnamon erfreuen zu dürfen.