Gnome-Förderer und Fedora-Betreiber Red Hat hat der Gnome-Shell nun praktisch das Vertrauen entzogen – die nächste Version der Unternehmens-Distribution Red Hat wird als Oberfläche kein Standard-Gnome mehr verwenden.
Jetzt scheint klar, weshalb Gnome 3 nach dem Wegfall des Fallback-Modus einen Classic-Modus spendiert bekam. Nicht die Unzufriedenheit der Nutzer mit dem Bedienkonzept, nicht der Verlust des Habitus als Linux-Desktop Nr. 1, nicht die vorübergehende Entfernung aus Ubuntu, nicht der einschlagende Erfolg von Linux Mint, nicht das Auftauchen der Forks und Alternativen, nicht der Bedeutungsverlust bei fast allen Distributionen. Nein, die Anforderungen des Geldgebers Red Hat dürften es letztendlich gewesen sein, die zur Entstehung des Classic-Modus geführt haben.
Red Hat Enterprise Linux (RHEL) ist rein auf Unternehmenskunden zugeschnitten und nur im Zusammenhang mit Support-Verträgen zu erwerben. Privatanwender, die die Distribution nutzen möchten, können lediglich über Derivate wie CentOS in den Genuss der Firmen-Distri kommen. Wie auch Debian hinkt RHEL mit der Zeit der aktuellen Entwicklung um Jahre hinterher, mit dem Unterschied, dass die Supportzeiträume nochmals um etliches länger sind als bei Debian. Oberflächlich tut sich daher auf dem RHEL-Desktop nicht viel, hier ist in der aktuellen Variante wie selbstverständlich noch immer Gnome 2 der Standard-Desktop, obwohl Gnome 4 schon beinahe in den Startlöchern steht.
Das aktuelle RHEL sieht noch immer so aus wie ein anderes Linux mit Gnome vor 10 Jahren. Bild: Wikipedia, unter GPL-2-Lizenz
Für die nächste Version nun wird Gnome zwar nicht aufs Abstellgleis gefahren, aber die Gnome-Shell will man der zahlenden Kundschaft auch nicht zumuten. Der Classic-Mode wird zum Standard-Desktop in RHEL werden. Für den Firmeneinsatz ist die Gnome-Shell auch denkbar schlecht geeignet, denn sie bricht nicht nur allgemein das bisherige Bedienmuster, sondern speziell auch mit dem bisherigen Workflow, den Red Hat mit seinem Enterprise-Linux den Kunden anbot. Firmenkunden benötigen Kontinuität, und die ist beim Gnome-Projekt abhanden gekommen. Hier auf einmal zur Gnome-Shell zu wechseln, den Unternehmen ein avantgardistisches Bedienkonzept unterzujubeln, wäre einem Himmelfahrtskommando gleichgekommen.
Das wirklich Aufsehenerregende ist jedoch, dass Red Hat damit die bisherige Parität von Privat- und Firmenprodukt aufgibt. Offiziell gibt es seit dem Ende von “Red Hat Linux” ohnehin kein Privatkundenlinux mehr von Red Hat, doch inoffiziell hat natürlich Fedora diese Rolle übernommen. RHEL basiert auf Fedora und kennzeichnend war bisher, dass man auch die Standard-Oberfläche von Fedora übernahm. Dieses Prinzip wird nun erstmals durchbrochen, das nächste RHEL wird mit einer anderen Standard-Oberfläche ersheinen als die Basis Fedora. Den Privatanwendern lässt man die Shell zum Spielen – und fürs ernsthafte Arbeiten empfiehlt man den Kunden Gnome 3 in der Classic-Variante.
Hätte Red Hat eine Alternative zum Classic-Mode? Nicht wirklich. Gnome-Shell für den Unternehmens-Desktop ist zu gewagt, Cinnamon nicht unter der Kontrolle Red Hats, Mate baut auf veraltender Technik auf und XFCE wäre trotz aller Fortschritte ein Rückschritt gewesen.
Ironischerweise würde sich die Gnome-Shell in ihrer Schlichtheit sogar ausgesprochen gut für den Unternehmenseinsatz eignen, die spartanische Oberfäche, an der man nicht viel verstellen kann, die für jede Aufgabe nur eine Lösung bietet und sich möglichst idiotensicher präsentiert, wäre der ideale Firmen-Desktop – wenn Gnome allein auf der Welt wäre. So aber muss sich die Shell mit den vorhandenen Strukturen messen lassen, und dabei verliert sie, da sie mit zu vielen gewohnten Konzepten bricht.
Wer sich wunderte, weshalb das Gnome-Projekt mit seiner Keine-Optionen-Philosophie ausgerechnet in dem Moment, als man sich des Fallback-Modus entledigte, eine neue Alternative namens Classic Mode anlachte, der hat nun die Antwort: Red Hat brauchte eine Alternative, und Gnome liefert sie nun. Gnome nennt sich selbst people-centered, doch letzten Endes hört man auf die Wünsche der Geldgeber, nicht auf die Wünsche der Nutzer. Den Nutzern kann es egal sein, denn sie erhalten mit dem Classic-Modus nun auch so das Gewünschte.
Die ursprüngliche Annahme, die Gnome-Macher hätten von sich aus zumindest partiell ein Einsehen gehabt, muss damit wohl revidiert werden. Das Gnome-Projekt hat abgesehen vom Classic-Mode bei der Shell stur an seinem Gnome-Shell-Konzept festgehalten und nur minimale Zugeständnisse gemacht, etwa die prominentere Verfügbarkeit von Erweiterungen oder die geänderte Funktion des Rechner-ausschalten-Menüeintrages. Der Classic-Modus erscheint in diesem Licht nach wie vor wie eine reine Notlösung, keine Umgebung, die mit Herzblut gemacht wird. Shell-Verächter wird man damit jedenfalls dauerhaft kaum für Gnome begeistern können, es bleibt ein Ausweichangebot, ein Zugeständnis.
Die Shell deswegen gleich als gescheitert zu erklären trifft es dennoch nicht ganz – denn auch der Classic-Modus besteht aus einer umdekorierten, mit Erweiterungen versehenen Shell. Im Gegenteil – die Shell ist genau das, was die Gnome-Enwickler machen wollen. Gescheitert ist jedoch der Anspruch an eine einheitliche Lösung, solange Gnome-Shell und Classic-Ansicht parallel existieren. Das widerspricht der Gnome-Idee und lässt im Grunde die gesamte Desktop-Strategie den Bach runtergehen.
Um Gnome in dieser Hinsicht wieder ernstnehmen zu können, müsste Gnome den radikalen Schritt gehen und sich von dem in die Sackgasse manövrierten Shell-Konzept verabschieden. Diesen Mut wird man bei Gnome jedoch nicht aufbringen bzw. nicht aufbringen wollen, selbst wenn man weiterhin an einem nicht kleinen Teil der Nutzer vorbeiprogrammiert.
Dennoch – erst dann, wenn RHEL und Fedora irgendwann einmal wirklich kein Gnome mehr verwenden sollten, wird man von Scheitern sprechen können.