Von Anfang an war klar, dass Ubuntu sein eigenes Süppchen kochte. Doch dass es sich einmal derart weit von den übrigen Distributionen entfernen würde, hätte vor ein paar Jahren noch niemand für möglich gehalten. Ubuntu trägt damit stark zur Fragmentierung von Linux bei, einer Unübersichtlichkeit, die bislang nur darin bestand, sich für eine von unzähligen Zusammenstellungen und Spielarten entscheiden zu müssen. Nun aber könnte es mit einem alternativen Display-Server tatsächlich zu technisch unterschiedlichen Systemen kommen.
Ursprünglich war Ubuntu einmal eine Linuxdistribution, die vieles anders machte als andere Distris: mutigere Farbgebung, einheitliches Corporate Design, Anwenderfreundlichkeit, aggressives Marketing. Aber es war eindeutig eine Linuxdistribution. Mittlerweile gibt sich Ubuntu alle Mühe, seine Herkunft zu verstecken.
Ubuntu, nicht Linux
Ubuntu will nicht mehr ein Linux unter anderen sein: „Linux for human beings“ lautete der Wahlspruch anfangs noch. Inzwischen ist der Slogan beerdigt und mit ihm auch alles andere, was irgendwie auf Linux hindeuten könnte. Die Bezeichnung Linux taucht praktisch nirgendwo mehr auf. Der Anwender soll Ubuntu benutzen, nicht Linux. An diesem Ziel arbeitet man immer verbissener.
Separatistische Etappen
Für viele Alt-Ubuntuuser ging die Welt schon unter, als Ubuntu 2010 die Fensterbutton-Reihenfolge veränderte – damals noch unter Gnome. Gnome 2 wurde einfach optisch umgestaltet, mit ubuntutypischem Look versehen.
Kurz danach kam mit Unity eine komplett andere Oberfläche, die keine andere Distribution im Sortiment hatte – statt das neue Gnome 3 nur anzupassen oder gleich auf KDE aufzubauen.
Statt die linuxtypischen Installationsarten in den Vordergrund zu stellen, wurde auch die Softwareverwaltung „individualisiert“ – Ubuntu bekam ein Software-Center spendiert.
Dann servierte man den Anwendern ein Linsengericht: Vordergründig komfortablere Suchfunktionalität, faktisch jedoch künftig Werbung frei Haus, unter dem Hinweis, dass es ja gar keine Werbung sei.
Jetzt kommt noch ein eigener Displayserver namens Mir dazu – eine Alternative für Wayland, das eigentlich als Ersatz für den altehrwürdigen X-Server kommen sollte.
Gefahr für Linux?
Der Unterschied zu den bisherigen Änderungen ist: dieses Mal bringt Ubuntu nicht die Stammnutzer, sondern die Entwicklergemeinschaft gegen sich auf, die zu Recht eine Fragmentierung des Linux-Desktops befürchtet – Fragmentierung dieses Mal nicht im Sinne von zu viel Wahlmöglichkeit, sondern Fragmentierung im Sinne von tatsächlicher Inkompatibilität untereinander.
Konnten KDE-Entwickler bislang nur bedauern, dass sich Ubuntu nie für KDE als Primäroberfläche entschieden hat, und konnten die Gnome-Leute nur bedauern, dass ihre Oberfläche auf Ubuntu praktisch abgesägt wurde, so stößt Canonical diesmal die Open-Source-Entwickler, die mit Wayland praktisch dasselbe in Grün programmieren, nicht nur vor den Kopf, sondern sorgt für Bestürzung.
Denn der Versuch, mit Mir einen eigenen Displaymanager zu etablieren, bedeutet nicht nur, eine weitere Alternative bereitzustellen, die allenfalls zur „Zerfledderung“ des Linux-Desktops beitragen könnte – nein, Mir hat das Potential, echtes Chaos in die Linuxlandschaft zu bringen. Wo Unity beispielsweise theoretisch selbst auf Suse oder Fedora lauffähig ist (wenn auch nicht sinnvoll), so könnte Mir dafür sorgen, dass Linux-Distributionen bzw. die Linuxprogramme untereinander inkompatibel werden. Browser A könnte nur noch mit Mir laufen, Office-Paket B nur mit X-Nachfolger Wayland – und Fenstermanager C mit keinem von beiden, weil die Entwickler die Portierung scheuen, wenn keine einheitliche Lösung in Sicht ist.
Katastrophe für Linux
Das wäre eine mittlere Katastrophe für das Ökosystem Linux, denn der X-Server ist außer dem Linux-Kernel bislang das, was die Distributionen untereinander eint und zusammenhält: der kleinste gemeinsame Nenner, auf den alle aufbauen. Wo es ansonsten „nur“ unterschiedliche Oberflächen, unterschiedliche Paketverwaltungssysteme und unterschiedliche Anwendungszusammenstellungen gab, wird es nun demnächst auch unterschiedliche Anzeigetechniken geben.
Das könnte sogar das Ende von Xubuntu, Lubuntu und Kubuntu bedeuten, wenn diese Oberflächen nicht für Mir fit gemacht werden sollten. Ubuntu könnte also in Zukunft bedeuten: Ubuntu entweder mit Unity – oder gar nicht.
Wenn man sich künftig nicht mehr darauf verlassen kann, dass Linuxsoftware prinzipiell auf jeder Linuxart läuft, könnte das der Punkt sein, an dem viele Anwender endgültig entnervt aufgeben werden – und zu Windows oder zum Mac wechseln.
Linux oder Ubuntu
Das eigentlich Erschreckende an der Entwicklung ist, dass sämtliche Produkte von Ubuntu frei im Sinne der GPL sind – doch zum Einsatz kommen sie am Ende nur bei Ubuntu selbst. Alles ist freie Software, jeder könnte es benutzen, aber Ubuntu entwickelt so sehr für die eigenen Bedürfnisse und Anforderungen, dass es niemand anderes benutzen mag. Allein dadurch, dass sich Ubuntu so einzigartig macht, wird es seinem heimlichen Vorbild Apple immer ähnlicher. Am Ende könnte ein System stehen, das Apple, Windows und Google etwas entgegensetzen kann, das dann zwar frei ist, aber das trotzdem so geschlossen wirkt, dass der Anwender auch hier nicht mehr die Wahl hat.
Für wen werden die Linux-Softwareentwickler künftig entwickeln? Für Ubuntu? Oder für die übrige Linuxlandschaft? Oder werden die anderen Distributionen, statt wie zu erwarten war auf Wayland, nun auf Mir setzen? Vielleicht sollte man sich sicherheitshalber gedanklich schon mal darauf vorbereiten, dass Ubuntu bald auch eine Alternative zum Linux-Kernel finden wird …