Heute buhlen ein gutes Dutzend Oberflächen um die Gunst der Linuxanwender. Vor 10-15 Jahren sah das noch ganz anders aus. Da gab es KDE und Gnome – und ein paar ambitionierte Fenstermanager. War bereits dieser Duopol damals manchen verhasst, so waren es doch geradezu traumhafte Zustände im Vergleich zur Situation dieser Tage. Von einem einheitlichen Desktop ist Linux heute damit weiter entfernt denn je.
Als wir uns bereits einmal beklagt hatten, dass es immer unübersichtlicher würde, konnten wir nicht ahnen, dass irgendwann Gnome neben den ganzen Forks auch selbst noch eine Art Abspaltung von sich selbst anbieten würde (die in Wirklichkeit gar keine ist, sondern nur eine Umgestaltung der Gnome-Shell).
Dass es „das Linux“ nicht gibt, musste man früher den Leuten erklären, die die SuSE-Distribution (heute: OpenSUSE) für Linux schlechthin hielten. In späteren Jahren nahm Ubuntu diesen Platz ein – bis in diese Tage gilt es bei vielen als das Linux, obwohl es seinen Zenit auch schon wieder überschritten zu haben scheint. Distributionen gibt es viele; manche verschwinden wieder, und es kommen immer wieder neue hinzu, seien es Abspaltungen von bereits bestehenden Distris oder Neuentwicklungen.
Die Wahl eines bestimmten Desktops bleibt obligatorisch
Doch herrscht nicht nur bei den Distributionen nach wie vor eine große Auswahl. Relativ neu ist, dass sich der Linuxinteressierte nun auch unter den Oberflächen einer fast unüberschaubaren Vielfalt gegenübersieht. Es existieren gefühlt fast schon so viele verschiedene Oberflächen, wie es Distributionen gibt. Wer aktuell eine Distribution installiert, der hat die Qual der Wahl. Die meisten Distributionen treffen zwar für den Anwender eine Vorauswahl, legen sich darüber hinaus sogar explizit darauf fest und optimieren eine bestimmte Oberfläche für ihr Produkt, doch wer will, kann aus einem guten Dutzend von Schnittstellen wählen. Manchmal muss er sogar, wenn die Distribution explizit keine Vorauswahl trifft. Die Wahl der Distribution tritt dabei fast schon in den Hintergrund – man entscheidet sich heute eher für eine Oberfläche – und wählt anhand dessen dann die dazu passende Distribution, die diesen Desktop möglichst gut eingerichtet anbietet.
Damals
Ganz am Anfang stand ironischerweise einmal das Ziel eines einheitlichen Desktops: das KDE-Projekt entstand mit dem Ziel, eine einheitliche Oberfläche für Linux zu schaffen. Erreichen wollte man dies, indem man einfach alle Anwendungen, die zu einem Desktop gehörten, noch einmal selbst programmierte, mit einheitlichem Aussehen, einheitlichen Bibliotheken und vereinheitlichter Bedienung. Der fragmentierte Linux-„Desktop“, auf dem jedes Programm völlig anders aussah und anders funktionierte, sollte endlich Vergangenheit werden.
Unglücklicherweise standen die KDE-Bibliotheken zunächst unter einer nicht-freien Lizenz. Ein unfreier Desktop für ein freies Betriebssystem, das ging nicht, also entstand Gnome, mit dem Ziel, ebenfalls einen einheitlichen Desktop für Linux bereitzustellen – aber einen wirklich freien. Der Rest der Geschichte ist bekannt. Gnome und KDE wetteiferten um den besten Desktop, KDE dabei mit dem Credo der Wahlfreiheit, Gnome wechselte, nachdem man bis Gnome 1.4 zunächst einen erkennbaren Klon bereitstellte, zum Einfachheits-Paradigma und ging endgültig eigene Wege. Da Gnome relativ zügig auf KDE reagierte und früh eine funktionierende Alternative bereitstellte, die durch die pragmatische LGPL-Lizenzierung schnell an Popularität gewann, hatte KDE nie eine Chance, zur unangefochtenen Nr. 1 zu werden, obwohl es gerade in den Anfangsjahren technisch stets deutlich weiter war als Gnome.
Die theoretischen Gedankenspiele faszinieren: Was wäre gewesen, wenn KDE von Anfang an auf eine freie Basis gesetzt hätte? Wäre Gnome vielleicht nie entstanden? XFCE und Enlightenment würde es trotzdem geben, aber vielleicht hätten sie in Anbetracht der KDE-Übermacht niemals den heutigen Umfang erreicht und wären bessere Fenstermanager geblieben? XFCE hätte nicht auf GTK umgestellt, LXDE wäre wahrscheinlich nicht entstanden. Oder es wäre so oder so zu Alternativoberflächen gekommen, weil es dem Naturell der Menschen entspricht, Dinge neu, anders und besser machen zu wollen – und die als freie Entwickler nicht von einem betriebswirtschaftlich agierenden Management gebremst werden.
Heute
Doch das ist alles reine Spekulation. Die heutige Situation hat sich beinahe organisch entwickelt, mit dem Ergebnis, dass der einheitliche Linux-Desktop inzwischen weiter entfernt ist denn je, die Vision vom einheitlichen Erscheinungsbild immer unrealistischer wird. Neben KDE gediehen XFCE und Gnome, zuletzt noch LXDE – und seit E17 veröffentlicht und brauchbar geworden ist, kommt auch noch von dieser Seite Neues. Richtig unübersichtlich wurde es jedoch, als KDE und Gnome den nächsten großen Schritt nach der vergangenen Dekade wagten. Aus Unzufriedenheit mit KDE 4 forkte das Trinity-Projekt KDE 3, parallel dazu entstand mit Razor-Qt der Versuch, einen schlankeren Desktop auf Qt-Basis zu schaffen, als KDE 4 einer ist.
Ironischerweise war Gnome zwischenzeitlich drauf und dran, zum faktischen einheitlichen Linux-Desktop zu werden, dank der primären Unterstützung durch Novell (Opensuse), Red Hat (Fedora) und nicht zu vergessen Ubuntu, welches Gnome in den letzten Jahren zu großer Popularität verholfen hatte. Gnome schien sich als führender Desktop, als Gesicht von Linux, durchzusetzen.
Mit der Gnome-Shell hatte sich dies schlagartig erledigt. Nun spalteten sich nicht nur von KDE die Projekte ab, sondern auch von Gnome. Und hier wurde es noch schlimmer. Die einen forkten den alten Desktop und nannten ihn Mate, die anderen wiederum modifizierten das neue Gnome und nannten es Cinnamon, um es fortan traditioneller fortzuentwickeln. Und dann kam auch noch Ubuntu und schuf mit Unity etwas ganz anderes. Bei Gnome selbst wiederum portierte man das alte Gnome-2 Panel und nannte das Ergebnis Fallback-Mode (inzwischen: Flashback), um schließlich auch noch die Gnome-Shell so umzudesignen, dass man einen zusätzlichen Classic-Modus anbieten konnte.
Zu allem Überfluss hat nun auch noch LXDE angefangen, sich auf „Qt“ zu portieren bzw. mit dem Razor-qt-Projekt zu verschmelzen. Damit existieren derzeit auch zwei Varianten von LXDE, einmal klassisch auf GTK 2 basierend, und einmal im Übergang befindlich, neu im Entstehen als Qt-Version.
Sand am Meer
Damit gibt es derzeit für Linux 14 verschiedene nennenswerte Oberflächen, reine Fenstermanager nicht mitgezählt. Mit den aktuellen Linuxdistributionen lassen sich über ein Dutzend gängige Oberflächen, basierend auf 8 Kernentwicklungen, aufbauend auf 6 unterschiedlichen Toolkits, installieren.
Derzeit verbreitete Linuxoberflächen und Toolkits
Vor allem der Wechsel von Gnome 2 auf Gnome 3/Gnome Shell hat bewirkt, dass statt einer nun ganze 6 Varianten von Gnome im Umlauf sind: das bisherige Gnome 2, die neue Shell, der Fallback-Modus Flashback, der neue Classic-Modus sowie die Forks Cinnamon und Mate.
Während früher die Distributionen mit zwei Wahlmöglichkeiten kamen, so gehören heute zum Standardrepertoire einer Distribution, die etwas auf sich hält, ungleich mehr Offerten. Neben KDE und Gnome gehören XFCE und LXDE schon länger dazu, neuerdings auch E17, Mate und Cinnamon. Unity bleibt dabei eine Ubuntu-Besonderheit, die sich in anderen Distributionen nicht durchgesetzt hat.
Utopische Einheit
Ob es den einheitlichen Linux-Desktop überhaupt je geben wird, ist inzwischen mehr als fraglich. Linux (als Desktop-System) ist faktisch wieder dort angekommen, wo es vor 15 Jahren schon einmal war: ein Sammelsurium aus unterschiedlichen Toolkits, Programmbibliotheken, Designs und Interfaceideen. Zwar kann man anders als damals einen absolut einheitlichen Desktop erhalten – aber man muss dazu in den Grenzen eines spezifischen Desktops bleiben. Wer KDE, Gnome & Co. nicht verlässt, der hat die Illusion eines einheitlichen Linuxdesktops. Doch in der Praxis funktioniert das kaum, es werden Anwendungen auch aus anderen Projekten genutzt, da nicht jede Desktopumgebung immer das passende Programm für den gewünschten Einsatzzweck bietet. Auch die großen, von den Desktops unabhängigen Anwendungen unterstützen meist nur ein Toolkit und tragen daher nicht zum einheitlichen Desktoperlebnis bei, wenn man sie unter der „falschen“ Oberfläche startet. Im Endeffekt passt dann nichts wirklich zusammen, denn in der Regel schafft es kein Desktop für sich alleine, den Linux-Nutzer vollständig zu überzeugen.
Die Vorteile, die sich aus diesem Anwendungsdschungel ergeben, sollte man natürlich nicht verschweigen: Die Uneinheitlichkeit bietet den Vorteil, dass eben nebeneinander auch die unterschiedlichsten Konzepte existieren können. Gegenüber anderen Systemen besteht der Vorteil, dass man sich bei Linux den Lieblingsdesktop nach eigenem Gusto auswählen kann. Der vermeintliche Nachteil wird zum Vorteil. Die Chancen stehen deutlich höher, dass man den idealen Desktop findet – allerdings muss man sich dazu auch erstmal eine ganze Menge ansehen. Darüber hinaus findet sich fast immer das passende Programm, wenn der gewählte Desktop es einmal nicht von Haus aus mitbringt. Das Kombinieren der verschiedenen Programme aus unterschiedlichen Welten ist in der Regel problemlos möglich, u.a. dank der Zusammenarbeit der Projekte bei den desktopübergreifenden Spezifikationen. Es sieht dann zwar nicht unbedingt alles aus wie aus einem Guss, aber die Funktionalität ist gewährleistet.
Vielleicht war die Idee eines einheitlichen Linuxdesktops ohnehin nur eine Utopie, denn da Linux ein freies und offenes System ist, wird es immer Alternativen zu vorhandenen Lösungen geben, auch und gerade zu dominierenden Lösungen. Wenn sich Distributoren um ein einheitliches Erscheinungsbild bemühen, dann rückt das homogene Desktoperlebnis zwar in greifbare Nähe, doch auch hier gilt eben, dass es nicht nur eine Distribution gibt. Der einheitliche Linuxdesktop bleibt daher ein Schlagwort, das weiterhin verlockend klingen mag, sich bei näherer Betrachtung aber als das entpuppt, was es ist – nämlich ein theoretisches Konzept, welches weder umsetzbar noch erstrebenswert ist, und keine Entsprechung in der Realität finden wird.