Seit den ersten Tagen von Pinguinzubehör lautete der Untertitel „Linux für Normale“. Gemeint war damit, dass es hier um das Linux als Desktop-System gehen sollte, für den User von nebenan, der weder in einem naturwissenschaftlichen Studiengang steckt, seine Ausbildung zum Systemadministrator hinter sich hat oder sonstwie mit der IT zu tun. Linux als ganz normales Betriebssystem für jedermann – das war zu Anfang des Jahrtausends noch eine Vision, die mit dem Aufkommen von Ubuntu jedoch auf einmal realisierbar schien.
Linux für „Normale“ wird wohl weiterhin eine Utopie bleiben, denn Normalos sind in der Regel Pragmatiker – und greifen zu dem System, von dem sie sich am wenigsten Aufwand bei maximalem Nutzen versprechen. Und diese Systeme findet man weiterhin eher bei Windows und Mac OS, auch wenn Linux im Bereich Aufwand inzwischen gleichgezogen oder die Konkurrenz sogar übertroffen hat. Beim Nutzen ist Linux auf dem Desktop bisweilen weiterhin im Hintertreffen, ganz abhängig vom anvisierten Einsatzzweck. Linux wird auch im Jahre 2016 primär nicht aus Komfortgründen benutzt, sondern eher wegen technischer und politischer Erwägungen installiert.
2002: Die Killer-Apps für damaliges Desktop-Linux: Mozilla und OpenOffice 1.0 unter KDE 2
Es ist daher nicht verwunderlich, wenn sogar alte Linux-Hasen oder -Häsinnen irgendwann genervt die Seiten wechseln, weil auch nach Jahrzehnten der Marktpräsenz von Linux damit immer noch nicht das möglich ist, was man sich davon versprochen hat. Manches davon hat systembedingte Ursachen, anderes liegt an einer verfehlten Politik der Distributionen.
Doch auch wenn bei Canonical vielleicht einige Fehlentscheidungen getroffen wurden und Linux gemeinsam mit Ubuntu an Desktop-Strahlkraft eingebüßt hat, bleibt die Idee doch weiterhin faszinierend: Eine Wahlmöglichkeit zu haben, und zwar nicht nur zwischen verschiedenen proprietären Systemen, sondern auch die Möglichkeit, sich für eine unabhängige, freie Alternative entscheiden zu können. Und immerhin unter den freien Alternativen scheint Linux weiterhin die pragmatischste zu sein.
Woran liegt’s?
Verglichen mit den früheren Zeiten sind die Zustände heute eigentlich geradezu paradiesisch auf dem Linux-Desktop. Vor knapp 15 Jahren kam OpenOffice gerade erst auf den Markt, der einzige ernsthafte Browser, den man nutzen konnte, hieß Mozilla (aktuell unter dem Namen Seamonkey bekannt). Für E-Mail gab’s ebenfalls Mozilla oder KMail. Von Ubuntu war noch nichts zu sehen, Gnome war keine auf Einfachheit und Nutzerfreundlichkeit ausgelegte Oberfläche, sondern sah aus wie Frankensteins Hinterhof, und KDE wurde schon damals andauernd komplett umgekrempelt und wirkte erst recht noch nicht fertig. Die nutzerfreundlichen Basics, die man von Windows und Mac gewohnt war, fehlten größtenteils, so dass KDE und Gnome in Eigenregie versuchten, in diesem Bereich für Abhilfe zu sorgen.
2005: Firefox 1.0 im Red-Hat-Design
Aus diesen Bemühungen sind viele großartige Anwendungen entstanden, die sich heute sehen lassen können. Auch bei den gebräuchlichen Anwendungen, die nicht zu den Desktops selbst gehören, herrscht heute kein Mangel mehr. Bei den Browsern konkurrieren Chrome und Firefox auch unter Linux miteinander, beim Office hat der Linuxnutzer die Wahl zwischen Open- und Libre Office, auch kleinere Spezialisten werden für Linux entwickelt, und auch in den übrigen Bereichen gibt es fast immer eine passende Lösung.
Statt nur zwischen KDE und Gnome (oder den minimalistischen reinen Fenstermanagern) wählen zu können, darf man sich heute zwischen einem Dutzend Oberflächen entscheiden. Auch bei der Zahl der ernstzunehmenden Distributionen hat Linux im Laufe der Jahre kräftig zugelegt – was sich jedoch mitunter nicht immer als positiv erweist. Damals hatte man als Linux-Desktop-Nutzer nur eine geringe Auswahlmöglichkeit: Für Anfänger gab es Suse (heute Opensuse) und Mandrake (heute Mageia), ambitioniertere Nutzer trauten sich auch an Debian (immer noch Debian) und Red Hat (heute Fedora) heran, für die Freaks gab es Slackware statt Arch und Gentoo.
1999 noch auf CDs: Suse 6.1 im Karton mit Handbüchern
Das Vertriebskonzept hat sich seitdem grundlegend gewandelt. Private Desktop-Linux-Nutzer waren einst noch eine echte Zielgruppe, Distributionen wurden primär verkauft, samt Handbüchern und Telefonsupport. Heute ist Linux quasi durchweg frei wie Freibier, auch von den kommerziellen Anbietern, im Gegenzug wird die Masse der Nutzer als Betatester eingespannt. Schnelles Internet und die Konkurrenz durch die freien Projekte wie Debian und die Gratiskultur von Ubuntu haben es möglich gemacht.
Problem Auswahl
Doch die Fülle an Auswahlmöglichkeiten macht es nicht nur heutigen Anfängern schwer, hier noch die Übersicht zu behalten. Würde ein alter Linuxkenner heute neu mit Linux anfangen, er stünde wie der Ochs vorm Berg und wüsste nicht, welche Distribution er nehmen sollte. Der Linux-Dschungel ist so dicht zugewachsen, dass man ohne entsprechende Hilfe wie Distrochooser oder Desktop-Chooser, die den Ochsen an der Leine führen, kaum noch eine Wahl zu treffen vermag, wenn man nicht bereits mit der Materie vertraut ist. Solche Angebote und Übersichten gab es zwar damals schon, doch heute sind sie fast Voraussetzung für einen gelungenen Linux-Einstieg.
Mit der richtigen Distribution für die richtige Aufgabenstellung für den richtigen Anwender ist Linux ein geniales Betriebssystem – aber diese Faktoren muss man erst einmal unter einen Hut bekommen. Anwender, die „einfach nur arbeiten“ wollen, werden Linux daher niemals als erste Wahl wahrnehmen.
Problem NIH-Syndrom
Der einstige große Vorteil von Linux – seine Flexibilität bei der Distributionswahl – ist heute auch nicht mehr unbedingt gegeben. Wer heute ein Ubuntu nimmt und sich an dessen Oberfläche Unity gewöhnt, kann nicht mehr problemlos zu einer anderen Distribution wechseln, sollte Ubuntu doch einmal Zicken machen.
2006: KDE 3 im Keramik-Look
Der Wechsel zu Unity muss im Nachhinein wohl als Fehlentscheidung betrachtet werden. Unity ist zwar eine gut zu benutzende Oberfläche geworden, doch Linux Mint bietet mit seinem Cinnamon eine ebenso gute Oberfläche an – und im Gegensatz zu Unity ist Cinnamon auch für andere Distributionen verfügbar. Das Quasi-Monopol für desktopfreundliches Linux hat sich Ubuntu damit quasi selbst zerstört, ironischerweise, indem das überall anders auch verfügbare Gnome aufgegeben wurde und erst viel später auf Umwegen wieder Einzug hielt – als es längst seinen Status als Quasi-Standard eingebüßt hatte. Dass nun auch Kubuntu schon halb totgesagt wird, symbolisiert außerdem den Bedeutungsverlust von Ubuntu für die Desktop-Linux-Landschaft.
Problem Laufzeiten
Die Laufzeiten bleiben ebenso ein großes Problem unter Linux. Ausgerechnet die für Privatanwender attraktiven Distributionen haben teilweise Laufzeiten, die man auch mit Wohlwollen nur als lächerlich betrachten kann. Viele Mainstream-Distributionen haben ausgesprochen geringe Lebenszyklen, verglichen etwa mit Windows-Veröffentlichungen.
2004: Suse 8.2 mit KDE 3 im KDE-2-Look
Das liegt mit an der Entwicklungsgeschwindigkeit der meisten Linuxanwendungen und -oberflächen, bedeutet aber neben frischer Software auch, dass sich der Anwender alle paar Monate eine Neuinstallation antun muss, wenn er auf dem Laufenden (und sicher) bleiben will. Ein wenig Besserung ist erst seit jüngerer Zeit in Sicht, nachdem Suse und Debian ihre LTS-Zweige länger laufen lassen und auch Ubuntu dazu übergegangen ist, seinen Nutzern primär keine halbjährlichen Neuinstallationen mehr zu empfehlen, sondern in erster Linie auf die LTS-Versionen zu verweisen.
Problem schlechter Ruf
Leider, auch das muss man konstatieren, ist es trotz der vielen Fortschritte in den vergangenen Jahren nach wie vor nicht gelungen, den Habitus des Technikfreaksystems abzulegen. Ein Image, das von seinen Benutzern durchaus gerne auch gepflegt wird. Wer Linux nicht bloß als Android auf dem Smartphone nutzt, darf sich zu einem immer noch elitären Kreis zählen, der sich mit Computern vermeintlich besser auskennt als der gemeine Windows- oder gar Macnutzer. Wer Linux auf dem Desktop nutzt und weder Medieninformatik noch angewandte Mathematik studiert, erntet von seinem Umfeld auch heute noch anerkennende bis kopfschüttelnde Reaktionen. Linux bleibt unter klischeehaften Gesichtspunkten eines der besten Nerd-Systeme. Mit dem Unterschied, dass es sich heute auch von Nicht-Nerds problemlos nutzen lässt – die das jedoch in der Regel nicht interessiert. Oder die gar eher das Sozialverhalten von Linuxnutzern als befremdlich wahrnehmen.
Problem systemimmanente Nervereien
Dass auch die Linux-Nerds von ihrem System irgendwann mal die Nase voll haben, darf dabei jedoch auch nicht verwundern. Es bleiben die typischen Baustellen, die früher oder später das Potential haben, in der Wechselwilligkeit zu münden. Da wären zum einen die großen Klassiker: Wenn man sich gerade in Gnome häuslich eingerichtet hat, findet das Projekt wieder etwas, was man am Desktop noch einsparen kann. Und wenn KDE gerade so toll geworden ist, dass man nie wieder etwas anderes haben will, wird auf die nächste Version portiert. Dem Anwender wird auf dem Linux-Desktop nicht wirklich die Chance gegeben, sich länger an etwas zu gewöhnen – schon wird ausgebaut, umgebaut oder weitergebaut.
2002: KDE 2 unter SuSE 7.3
Auch die schon angesprochene Vielfalt kann irgendwann nur noch nerven. Bei der x-ten Distribution auf Ubuntubasis mit ausgetauschtem Hintergrundbild fragt man sich irgendwann unweigerlich, warum denn nicht mal lieber an einem Strang gezogen wird, statt den Hauptstrang immer weiter zu zerfasern, bis er irgendwann reißt. Das liegt in der Natur der Sache, trägt aber leider nicht dazu bei, dass Linux massenkompatibler wird. Ironischerweise sorgt gerade das einstmals so progressive Ubuntu in den letzten paar Jahren mit Unity für die größtmögliche Kontinuität auf dem Linux-Desktop – etwas, was sonst nur noch XFCE und den Legacy-Projekten wie Mate gelingt.
Problem Langeweile?
Wird Linux vielleicht auch einfach langweilig und langsam tatsächlich „normal“? In der Regel funktioniert es einfach, verrichtet jahrelang problemlos seinen Dienst, läuft stabil und sicher und muss – bei geeigneter Distribution – auch nicht andauernd neuinstalliert werden. Linux läuft im Jahre 2016 weitgehend so problemlos, dass die Technikversierten schon auf From-Scratch-Versionen ausweichen müssen, wenn sie sich eingehender mit dem System beschäftigen wollen – gezwungen werden die von Linux dazu heute nicht mehr. Man kann sich praktisch jahrelang dieselbe Debian-Kiste hinstellen und braucht sich um nichts weiter zu kümmern. Wenn dann doch mal eine neue Version fällig wird, dann werden einfach das persönliche Verzeichnis kopiert, ein paar Konfigurationen zurückgespielt – und schon läuft die Arbeitsumgebung wieder wie früher, ohne dass man sich an gravierend Neues gewöhnen müsste, wenn man sich eine Legacy-Arbeitsumgebung aussucht. Und quasi als Bonus kann man ganz nebenbei allerhand Innovatives ausprobieren. Welches andere Betriebssystem bietet das eigentlich sonst?
Linux für den Desktop!
Zwar hat die Linux-Begeisterung in den letzten Jahren gefühlt allgemein etwas nachgelassen – was aber auch an dem Bedeutungsverlust von Desktoprechnern insgesamt liegen mag. Die vielen Wahlmöglichkeiten und der Raum für neue Konzepte machen Linux aber weiterhin spannend – sowohl für die, die einfach nur mit statt am System arbeiten möchten, als auch für die ambitionierteren Nutzer, die gerne mal selbst hinter die Kulissen schauen. Linux bleibt weiterhin Einstellungssache – im doppelten Sinne. Es bleibt eine wunderbare Alternative für Individualisten und alle, die mit Windows oder Mac nicht wirklich zufrieden sind – ist umgekehrt aber nicht unbedingt attraktiv für diejenigen, die sich mit Windows und Mac wohlfühlen. Ein Killer-Feature, das die Leute scharenweise zu Linux treiben würde, wird es nie geben. So besetzt Linux für den Desktop weiterhin nur eine Nische – aber eine, die heutzutage um Welten komfortabler und anwenderfreundlicher ist als noch vor wenigen Jahren.
2006: SuSE Linux 10.1 mit Gnome 2
Um zum Eingangssatz zurückzukommen: Linux für Normale ist inzwischen Normalität und muss nicht mehr gesondert betont werden, allerdings hat sich die Normalität vor allem auch durch die Hintertür mit Android eingeschlichen. Auf PC und Notebook bleibt Linux ein sympathisches Spartensystem. Doch statt deswegen fahnenflüchtig zu werden, ändern wir einfach nur den Untertitel. Pinguinzubehör wird Linux auch weiterhin die Treue halten – und in Zukunft mit dem Claim „Linux für den Desktop“ firmieren.
PS. Und auch wenn sich inhaltlich hier nichts ändern wird, haben wir wenigstens das Design mal aufgefrischt: Pinguinzubehör erstrahlt nun runderneuert in responsiver Optik.